„Es gibt keinen Ort mehr, zu dem ich zurück kann“

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Die alte Frau hat diesen Traum. Dass ihre Söhne alle wieder zurückkommen in die Heimat, nach Syrien. „Das ist das Schlimmste, dass die Kinder so weit weg sind.“ Nabiha al-Imam ist eine Frau, an deren Gesichtszügen abzulesen ist, dass das Leben es nicht gut mit ihr gemeint hat. Sie wohnt jetzt wieder in Darayya, einem Vorort von Damaskus. Ihr Haus, das im Krieg um die Herrschaft im Land zerstört wurde, hat die Familie so gut es geht wieder bewohnbar gemacht, zumindest das Erdgeschoss. Es steht in einer der gesichtslosen, staubüberzogenen Straßen, in denen sich karge Zweckbauten und Kriegsruinen aneinanderreihen.

Kein Bild hängt an der Wand des Wohnzimmers. Es gibt keine Möbelstücke außer ein paar Teppichen und flachen Matratzen, auf denen es sich Nabiha al-Imam und drei ihrer Töchter bequem machen. Sie alle haben ihre Haare mit einem Kopftuch bedeckt. Es ist eine religiöse muslimische Familie. Nabiha al-Imam legt die Entscheidung über die Heimkehr ihrer Söhne mit einer frommen Floskel in Gottes Hände. Eine der Töchter verlässt wortlos den Raum und kehrt mit einem Tablett kleiner Kaffeetassen zurück. Dann beginnt Nabiha al-Imam vom Krieg zu erzählen.

Klassische syrische Familiengeschichte

Darayya war einer der ersten Orte, dessen Bewohner das Assad-Regime mit Protesten herausforderten. Die Streitkräfte des Diktators begannen 2012 eine brutale Militärkampagne, um den Aufstand niederzuschlagen. Sie richteten ein Massaker an der Bevölkerung an, ermordeten Hunderte Zivilisten. Sie zogen einen Belagerungsring um den Vorort, Wasser- und Stromversorgung wurden gekappt. Die Menschen litten unter Dauerbombardement und Hunger. In besonders schlimmen Zeiten aßen einige Gras, um zu überleben. Nach etwa vier Jahren Gewalt gaben die Belagerten im Sommer 2016 auf. Nabiha al-Imam und ihre Familie waren da schon fort, hatten die Vorstadt verlassen können, bevor sie komplett abgeriegelt war.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Ihre Geschichte ist eine so traurige wie klassische syrische Familiengeschichte von Horror und Flucht. Von Odysseen, die über Libanon, Jordanien und die Türkei nach Europa führten. Von Söhnen, die sich ins Ausland absetzten, weil sie sich der Rebellion gegen Gewaltherrscher Baschar al-Assad angeschlossen hatten. Die fortgingen, weil sie sich nicht in den Streitkräften des Regimes als Kanonenfutter verheizen und zu Erfüllungsgehilfen des Massenmords machen lassen wollten. Eine Geschichte von Töchtern, die in Syrien blieben, aber vom Krieg aus ihren Heimatorten vertrieben wurden.

Wie so viele syrische Familien ist die Familie von Nabiha al-Imam auseinandergerissen worden. Sie selbst, ihr Ehemann und ihre fünf Töchter sind jetzt in Syrien. Es ist Zufall gewesen, dass es dazu kam. Sie reisten im vergangenen November nach Syrien, weil sie neue Pässe brauchten. Und wurden dann vom plötzlichen Kollaps des Regimes und der Flucht Assads überrascht. „Gelobt sei Gott“, sagt Nabiha al-Imam, als spreche sie von einem Wunder. „Ich habe es erst nicht wahrhaben wollen nach all den Jahren.“ Jetzt stehen junge Männer aus Darayya, die Assad bekämpft haben, an den Checkpoints, jetzt besetzen frühere Aufständische Schaltstellen in der Stadtverwaltung. Jetzt, sagt Nabiha al-Imam, könne sie endlich wieder frei atmen.

„Assad hat alles zerstört“

Drei Söhne leben trotzdem weiter in Schweden. Einen Sohn, Kamal, hat es nach Deutschland verschlagen. Auch er will noch nicht zurück. Vor den Schergen des Regimes oder vor Zwangsrekrutierung in die Armee müssen sie keine Angst mehr haben. Den Grund für ihre Flucht gibt es nicht mehr. Aber sie haben derzeit auch keinen Grund zurückzukehren. „In welche Häuser sollen sie zurückkehren? Wovon sollen sie leben?“, fragt Nabiha al-Imam. „Assad hat alles zerstört.“

In Darayya hat der Krieg viel Verwüstung hinterlassen. Als die Bevölkerung aus dem Vorort vertrieben worden war, plünderten die Sicherheitskräfte noch die Trümmer, rissen Metallstreben aus dem Stahlbeton. Viele Häuser könne man gar nicht reparieren, sagt ein Bauunternehmer aus dem Vorort. Der Wiederaufbau werde Ewigkeiten dauern. Erst einmal müssten die Leute überhaupt das Geld dafür aufbringen, ihre Häuser wieder bewohnbar zu machen. Das Straßenbild gibt ihm recht. Es ist durchzogen von Gebäuden, von denen nur noch Gerippe stehen oder die wie riesige betongraue Setzkästen aussehen, weil ihnen die Fassaden weggerissen wurden. Die Auslagen in den Geschäften und den Marktständen sind so ärmlich wie die Kundschaft.

Darayya war einer der ersten Orte, in denen es Proteste gegen Baschar al-Assad gab: Das Bild zeigt den damaligen Machthaber bei einer Inspektion in dem Ort im Jahr 2013.
Darayya war einer der ersten Orte, in denen es Proteste gegen Baschar al-Assad gab: Das Bild zeigt den damaligen Machthaber bei einer Inspektion in dem Ort im Jahr 2013.Picture Alliance

Kamal, der 30 Jahre alte Sohn von Nabiha al-Imam, blickt aus seinem Fenster auf einen sattgrün bewaldeten Hügel. Am Horizont drehen sich zwei Windräder, in eine Senke schmiegen sich pittoreske Fachwerkhäuser und eine Kirche mit Zwiebelturm: Er lebt in Grävenwiesbach im Hochtaunuskreis. Sein spärlich möbliertes Zimmer in einer trostlosen Flüchtlingsunterkunft teilt er sich mit zwei Landsleuten. Wie seine Heimat Darayya ist Kamal vom Krieg gezeichnet. Wo einmal sein linkes Auge war, ist nur noch eine Narbe. Eine Rakete war 2013 in dem Haus der Familie eingeschlagen. Kamal hatte an Protesten gegen das Regime teilgenommen, lebte in Furcht vor Assads brutalen Geheimdiensten. Das Militär wollte ihn einziehen. Also verließ er Syrien Richtung Libanon.

Etwa einen Monat vor dem Sturz des Regimes ist er in Deutschland angekommen; etwa zur selben Zeit, in der seine Mutter zur Passbeschaffung nach Syrien reiste. „Aus der Türkei“, sagt Kamal. „Über das Meer.“ Er hat 10.000 Euro an einen Schleuser für die gefährliche Reise bezahlt. Lang hatte Kamal es gut aushalten können in der Türkei. Er hatte Arbeit in einer Hilfsorganisation und einem kleinen Elektroladen. Aber dann erhöhten die Behörden den Druck, nahmen die Angriffe auf Syrer zu. Kamal hielt es nicht mehr aus, zu groß war die Angst. „Am Ende schien kein Gesetz mehr zu gelten“, sagt einer von Kamals Mitbewohnern, der zu einem engen Vertrauten geworden ist.

Ein zerstörtes Klassenzimmer in Darayya
Ein zerstörtes Klassenzimmer in DarayyaPicture Alliance

Jetzt schlagen die zwei Freunde zusammen die Zeit tot. Beide haben Briefe vom Bundesamt für Migration bekommen. Ihre Asylanträge müssen im Licht der neuen Entwicklungen in Syrien geprüft werden. Das könne bis zu anderthalb Jahre dauern, schreiben die Behörden. Viel gibt es in Grävenwiesbach nicht zu tun. „Rewe und der Pizzaladen“, sagt der Mitbewohner auf die Frage nach möglichen Aktivitäten und lacht. „Es ist schon etwas langweilig“, sagt Kamal schüchtern, als habe er Sorge, sein Gastland zu beleidigen. „Das Leben hier ist schön, die Deutschen sind nette Leute“, sagt er. „Aber wenn ich ehrlich bin, vermisse ich meine Heimat.“

Auf den Deutschkurs wartet er seit einem halben Jahr

Seine Zurückhaltung weicht, wenn es um den Deutschkurs geht, auf den er seit einem halben Jahr wartet – und um die Unmöglichkeit, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. „Ich verstehe nicht, warum ich hier zum Nichtstun gezwungen werde“, sagt Kamal. „Ich würde gerne arbeiten und mein eigenes Geld verdienen.“ Seine Deutschkenntnisse bessert er mit seinem Mitbewohner in Eigenregie auf – mit der Hilfe von Videos im Internet. Ein Taschenkalender ist sein Vokabelheft. Darin stehen Sätze wie „Er ist nett“ oder „Bist du zu Hause“. Und: „Wir haben Zeit.“ Es sei schwer, die Sprache auf diese Weise zu lernen, sagt Kamal. „Man muss doch mit den Leuten sprechen.“ Bei den Begegnungen im Ort gehe es aber über ein „Guten Tag“ nicht hinaus.

Kamal aus Darayya lebt jetzt in Grävenwiesbach im Hochtaunuskreis. Sein Zimmer in einer trostlosen Flüchtlingsunterkunft teilt er sich mit zwei Landsleuten.
Kamal aus Darayya lebt jetzt in Grävenwiesbach im Hochtaunuskreis. Sein Zimmer in einer trostlosen Flüchtlingsunterkunft teilt er sich mit zwei Landsleuten.Wolfgang Eilmes

„Natürlich“, sagt Kamal auf die Frage, ob er nicht nach Syrien zurückwolle, „aber ich weiß nicht, ob gerade eine gute Zeit ist.“ Jeden Tag verfolgt er die Nachrichten aus Syrien, sorgt sich, wenn es wie in den vergangenen Monaten zu Gewaltausbrüchen kommt; zum Beispiel als Milizionäre unter dem Banner der neuen Regierung in der Küstenregion ein Massaker an der alawitischen Minderheit anrichteten. Er kommt auf die Schläferzellen des „Islamischen Staates“ zu sprechen, vor denen ausländische Geheimdienste warnen. Und auf die Kräfte des gestürzten Regimes, die das Land aus dem Untergrund destabilisieren wollten, denen Regierungsfunktionäre in Damaskus die Schuld an Morden, Entführungen und anderen Sicherheitsvorfällen geben. Er hätte gerne, dass seine Augenverletzung vernünftig operiert wird. Vor allem aber scheinen ihn die Zerstörung und die mangelnde Perspektive von einer schnellen Rückkehr abzuhalten. „Es gibt keinen Ort mehr, an den ich zurückkehren kann. Kein Haus, keine Arbeit“, sagt Kamal.

Seine Mutter und seine Schwestern in der Heimat haben es schwer, über die Runden zu kommen. „Für die Reparaturarbeiten am Haus mussten wir Land verkaufen“, sagt Nabiha al-Imam in ihrem Wohnzimmer in Darayya. Manchmal schickten die Söhne aus Schweden etwas Geld, das dabei helfe, alle satt zu machen. „Es ist einfach niemals genug da. Aber wir versuchen, irgendwie durchzukommen“, sagt die alte Frau. Und trotzdem scheint sie ihre Rückkehr nicht zu bereuen. „Es gibt doch nichts Besseres, als im eigenen Land zu leben“, sagt Nabiha al-Imam trotz aller Ungewissheit.

„Ich will einfach nur ein Leben“, sagt ihr Sohn Kamal. Er wünscht sich, dass es ein Leben in der Heimat sein wird. Aber er ist kein Träumer.