Cindy Gallop hat eine Plattform für Sexvideos gegründet, um die Welt zu verbessern. Mit Pornografie habe das nichts zu tun, sagt sie.

Cindy Gallop, heute 65, hat beim Daten junger Männer erkannt, dass diese ihr Wissen über Sex aus Pornos haben.
Pornografie ist so zugänglich wie nie, auch für Jugendliche. Das macht nicht nur Eltern Sorgen. Vor allem, weil gewaltsame und erniedrigende Videos auf Porno-Websites weit verbreitet sind. Wie geht man gegen dieses verzerrte Bild von Sexualität vor?
Cindy Gallop ist überzeugt: Am besten wirken Videos von echtem Sex. Sie hat die Plattform Make Love Not Porn gegründet, also «Mache Liebe, keinen Porno». Dort teilen Menschen Videos von sich beim Sex. Im Interview erklärt sie, was solche Videos von Pornografie unterscheidet und was Gründerinnen im Sex-Tech-Bereich im Weg steht.
Sie waren 49 und erfolgreiche Werbeberaterin, als Sie in einem Vortrag bei TED Ihre Website Make Love Not Porn lanciert haben. Was war Ihr Ziel?
Ich hatte kein Ziel. Make Love Not Porn ist mir passiert. Der Grund war, dass ich junge Männer date, in ihren Zwanzigern. So fiel mir schon vor etwa siebzehn, achtzehn Jahren eine Eigenart dieser Männer auf. Lange bevor man öffentlich darüber sprach, erfuhr ich ganz persönlich und intim, was passiert, wenn Menschen in einer Kultur aufwachsen, in der man erstens nicht über Sex spricht und in der zweitens jede Art von Pornografie ohne Beschränkung zugänglich ist. Kommen diese beiden Faktoren zusammen, werden Pornos zur Sexualerziehung.
Wie äusserte sich das?
Im Bett mit diesen Männern begegnete mir eine Reihe von sexuellen Verhaltensmustern, bei denen ich mir dachte: «Woah, okay – ich weiss, wo dieses Verhalten herkommt!» Und mir war klar: Wenn das mir passiert, passiert es auch anderen. Aber keiner spricht darüber.
Und das wollten Sie ändern.
Ich setzte eine kleine, klobige Website unter makelovenotporn.com auf. Am Anfang funktionierte sie wie ein Informationsaushang, der beschrieb: Diese Dinge passieren in der Pornowelt – und diese hier im echten Leben. Ich lancierte die Website bei der TED-Konferenz 2009. Mein Talk ging viral. Und Tausende Menschen aus der ganzen Welt schrieben mir intimste Dinge über ihr Sexleben und ihren Pornokonsum. Ab da fühlte ich mich persönlich verantwortlich, Make Love Not Porn grösser und hilfreicher zu machen.
Wie sieht die Website heute aus?
Make Love Not Porn ist ein soziales Netzwerk für sexuelle Videos. Es gibt Einblick in die witzigen, liebevollen, wunderbaren Arten, wie wir alle in der echten Welt Sex haben. Es ist Sexualerziehung durch Beispiele aus der echten Welt. Die Plattform ist auch ein soziales Experiment: Wir geben nicht vor, wie Sex in der echten Welt aussieht, wir fragen die Community. Wir lassen alles zu, was legal, einvernehmlich und echt ist. Wir haben Videos von Paaren, zu dritt, Masturbationsvideos von Männern, Frauen, Trans- und nonbinären Personen. Sie zeigen, wie eine gesunde Beziehung zu sich selbst und zum eigenen Körper aussieht.
Wer sind die Menschen, die sich auf Ihrer Plattform beim Sex zeigen?
Bevor wir die Plattform lanciert haben, brauchten wir einen Grundstock an Videos. Ich und meine damalige Kuratorin haben über ein Jahr unser gesamtes Netzwerk und viele Fremde gefragt, ob sie für uns ihren echten Sex filmen würden. Jedes Mal, nachdem ich meine Idee erklärt hatte, fragte ich, ob sie Lust hätten, mitzumachen. Und ich fand heraus, dass die Antwort überwiegend Ja ist. Viele haben Videos geteilt, bevor ihnen klarwurde, dass sie damit bei uns Geld verdienen können. Ich denke, den meisten geht es darum, dass sie einen gesünderen, offeneren Umgang mit Sex in der Welt sehen wollen.
Was ändert sich, wenn Menschen solche Videos sehen?
Die Plattform ist so transformativ für Sex, wie soziale Plattformen es auch für den Rest der Welt waren. Wir haben unzähligen jungen Menschen gezeigt, wie Sex in der echten Welt aussieht. Denn Sex ist zwar omnipräsent in Filmen, auf Netflix und auf Pornoseiten – doch wie er im echten Leben aussieht, sieht man sonst nirgends. In der Realität gehört zu Sex auch die Beziehung zwischen den Beteiligten. Die sieht und spürt man in unseren Videos. Deshalb schreiben uns sogar Eltern, die ein Abo für ihr Kind wollen, weil ihnen lieber ist, sie befriedigen ihre Neugier bei uns statt auf Youporn. Durch unsere Videos fühlen sich viele Menschen wohler in ihrem Körper.
Wie das?
Wir zeigen echte Körper, echte Behaarung, echte Penisgrösse, echte Brustgrösse, echte Vulven. Das ist wichtig. Denn Sie können so lang über Body-Positivity sprechen, wie Sie wollen – kaum etwas wirkt so stark, wie zwei Menschen, die nicht dem erstrebenswerten Körpertyp entsprechen, dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig erregen und eine grossartige Zeit im Bett haben.
Es sind Videos von Menschen beim Sex. Was unterscheidet sie von Pornovideos?
Diese Frage zeigt, wie kaputt die Sicht unserer Gesellschaft auf Sex ist: Wenn jemand im Video Sex hat, nennt man das gleich Pornografie! Ich sage, wo Pornografie ein Hollywoodfilm ist, sind die Videos unserer Plattform der dringend nötige Dokumentarfilm. Pornografie ist gescriptet, performt, produziert. Es ist Unterhaltungsmaterial, künstlich hergestellt, um zu erregen. Wir hingegen zeigen, was Menschen in der echten Welt tun. Da schleicht sich vielleicht ein Haustier in den Raum. Man sieht die Missgeschicke, die passieren. Wir haben auch viele BDSM-Videos, die Fesseln und Erniedrigung zeigen. Aber auch die sind ehrlich. Sie zeigen den Kontext dieser Praktiken: das Gespräch über Regeln und Grenzen vorher, das Kuscheln und die Nachsorge danach.
Die Plattform
Zwei Millionen Nutzer haben sich über zwölf Jahre bei Make Love Not Porn registriert. Etwas weniger als 400 Personen haben dort Videos von sich geteilt. Ihre Profile erzählen auch etwas über den Kontext der Videos und das Leben der Ersteller. Manche von ihnen vermarkten auch auf anderen Plattformen sexuelle Inhalte.
Sie haben erwähnt, dass Leute auf Ihrer Plattform Geld verdienen können. Wie funktioniert das?
Um auf unserer Plattform Videos zu sehen, muss man ein Abo lösen und einzelne Videos ausleihen. Die Hälfte des Preises geht an die Macher der Videos. Wir haben dieses Prinzip Jahre vor Onlyfans erfunden und eingeführt.
Onlyfans ist ebenfalls eine Plattform, auf der Menschen sexy Videos teilen und mit den Abonnementen der Nutzer Geld verdienen können. Die Plattform ist jünger als Ihre, aber viel erfolgreicher. Ist Ihr Echtheits-Ansatz zur Nische verurteilt?
Meine Ambition ist gleich gross wie die von Onlyfans. Ich habe vor Jahren das Ziel formuliert, dass ein Make-Love-Not-Porn-Video eine Million Mal für fünf Dollar ausgeliehen wird und die Macher die Hälfte davon bekommen. Das ist aus dem Grund noch nicht passiert, dass uns keiner finanzieren will. Onlyfans ist von ein paar weissen Männern gemacht, die entschlossen waren, Sexarbeit maximal auszubeuten. Wenn ich so ausbeuterisch wäre, könnte ich viel mehr Geld machen. Aber wir funktionieren bewusst ganz anders.
Was sind die Unterschiede zwischen Ihrer Plattform und Onlyfans?
Wir kuratieren die Plattform gänzlich von Hand. Wir schauen uns jedes Video in voller Länge an, bevor es geteilt wird, und lesen jeden Kommentar. Wir haben die Plattform so designt, dass sie für die Macher der Videos möglichst sicher ist. Wir holen die Zustimmung aller Menschen im Video ein und ziehen das Video zurück, wenn einer von ihnen es nicht mehr online haben will. Deshalb kann man die Videos auch nicht herunterladen. Und wir sind einzigartig dadurch, dass wir Videos nicht nach Beliebtheit sortieren und nicht zeigen, was am populärsten ist.
Warum wollen Sie nicht zeigen, welche Videos besonders gefallen?
Erstens, weil wir Sex in der echten Welt zeigen wollen. Und der ist nicht kompetitiv. Für uns sind alle Videos gleich viel wert. Zweitens würde so ein Ranking die Dynamik befördern, genau die Art Video zu produzieren, die am beliebtesten ist. Das wollen wir verhindern. Ein Risiko-Investor hat mir einmal gesagt, diese Entscheidung sei unternehmerischer Selbstmord. Aber wir bleiben dabei.
Woher kommt denn das Geld, das die Plattform am Laufen hält?
Dass es uns nach sechzehn Jahren noch gibt, liegt daran, dass mir diese Plattform wichtig ist. Ich habe meine Ersparnisse hineingesteckt und meine Pensionskasse dafür aufgelöst – eine schlechte Idee mit 65. Für den Launch der Video-Plattform habe ich nach meinem TED-Talk zwei Jahre gesucht, bis ich einen Investor gefunden habe. Der hat 500 000 Dollar investiert. Er ist immer noch unser Hauptinvestor, mit vier Millionen über die letzten zwölf, dreizehn Jahre. Ich habe Crowdfunding ausprobiert. Das Ziel war eine Million Dollar. Wir haben nur die Hälfte erreicht. Dazu kommt: Allein dieses Jahr wurde uns schon von drei Banken das Konto entzogen, weil wir «adult content» machen.
Mit «adult content», einem Codewort für Sexualität, will keiner zu tun haben?
Zahlungsdienstleister wie Paypal und Stripe schliessen Firmen mit diesem Label pauschal aus. Dabei ist das, was wir tun, komplett legal, wir kontrollieren das Alter aller Beteiligten. Wir sind ethischer als die meisten sozialen Plattformen! Trotzdem haben wir kaum Zugang zu Banken, werden in sozialen Netzwerken blockiert, dürfen keine Werbung schalten. Ich kenne viele Gründerinnen im Sex-Tech-Bereich. Wir haben alle die gleichen Probleme. Mein nächstes Projekt ist deshalb, ein Startup für Finanzdienstleistungen für Unternehmen wie meines zu gründen, die sonst ausgeschlossen werden. Darin liegt ein riesiger Markt.
In Vorträgen sprechen Sie auch von einer Lernplattform, die Sie gründen wollen. Woher nehmen Sie die Motivation?
Ja, im Moment suche ich nach Investoren für die Make Love Not Porn Academy, wo wir Lernvideos für Minderjährige anbieten wollen, filterbar nach Alter und kultureller oder religiöser Sensibilität. Eine Plattform für Aufklärung: informativ, faktenbasiert und nicht wertend. Es gibt so viel Interesse und Bedarf dafür! Ich tue das alles nicht, um meine tollen Ideen umzusetzen. Ich tue es, weil mich täglich Menschen darum bitten.