Wie die Bundeswehr ungediente Zivilisten zu Reservisten ausbildet

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In Zweierreihen zieht der Soldatentrupp am Zaun entlang. Immer wieder durchbricht das Geräusch von MG-Salven die angespannte Stille dieses flirrend heißen Sommertags. Die Rekruten sind wachsam. Sie wissen: Auf ihrer Streife kann jederzeit etwas passieren. Darauf wurden sie vorbereitet. Ihre Blicke schweifen unablässig in das dichte Gebüsch zu ihrer Rechten. Jeder Schatten könnte eine Gefahr sein, jedes Rascheln etwas bedeuten.

Plötzlich gibt der Streifenführer das Signal zum Halten. In etwa 20 Meter Entfernung liegt ein Mann in Flecktarn reglos im Gras. Langsam bewegt sich der Trupp auf ihn zu, während der Streifenführer und ein zweiter Soldat voranpreschen. Vorsichtig treten sie in einer L-Formation an den Leblosen heran. Neben der rechten Hand des Mannes liegt ein Kampfmesser. Die Nervosität ist den beiden Rekruten ins Gesicht geschrieben. Es könnte ein Hinterhalt sein.




Wachsam: Der Streifenführer blickt ins dichte Gebüsch – an diesem Übungstag könnte sich dort alles verbergen, von faulenzenden Rekruten bis hin zu feindlichen Kommandoeinheiten.








„Hier liegt eine leblose Person. Bewaffnet. Ende. Bitte kommen“, gibt der Streifenführer an den wachhabenden Offizier über Funk durch. Ein zweiter Soldat geht in Anschlag, das G36 fest im Griff, der Lauf auf die liegende Person gerichtet.

„Ist die Person ansprechbar?“
Der Streifenführer spricht den Mann an. Keine Reaktion.
„Person nicht ansprechbar. Kommen. Ende.“
„In Ordnung. Person entwaffnen.“
Mit dem Stiefel tritt der Streifenführer das Messer weg. Kein Zucken, kein Laut.
„Entwaffnet.“

„Okay – Übung Ende!“, ruft die Stabsgefreite, die diesen Teil der Wachübung an jenem Tag begleitet. Der Funk wurde nur simuliert, und der Bewusstlose im Gras war ein Kamerad, der sich als Statist andiente. In der Nachbesprechung weist er die Rekruten darauf hin, doch mal ins Gebüsch zu schauen. Dort steht ein Soldat mit einer Tarnmaske. Im Ernstfall wäre der Eindringling unentdeckt geblieben – oder noch schlimmer: Er hätte die Streife angegriffen. Deswegen auch immer die Umgebung sichern, mahnt die Stabsgefreite.




Ganz vorne: Tanja Berger steht an der Spitze der Formation.




Für die Rekruten ist das in der Übung Erlebte Neuland. Seit ein paar Tagen lassen sie sich in der Infanterieschule im fränkischen Hammelburg für die Reserve ausbilden. Menschen, die vorher nie eine Waffe in der Hand gehalten haben, die als junge Erwachsene den Wehrdienst verweigerten und mit der Bundeswehr oft lange nichts zu tun haben wollten. Dass sie jetzt doch noch zu Soldaten werden, hat unterschiedliche Gründe.

Ein niedrigschwelliges Angebot der Bundeswehr macht es ihnen möglich. Es erlaubt Zivilisten, sich in rund 20 Tagen an der Waffe schulen zu lassen. Seit der Einführung des Programms im Jahr 2018 wurden so mehr als 1200 Frauen und Männer ausgebildet. Man nennt sie: die Ungedienten.

Nach ihrer Ausbildung wollen viele von ihnen in eines der sechs Heimatschutzregimenter. Sollte zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik der Verteidigungsfall eintreten, wäre es an den Heimatschützern, der kämpfenden Truppe den Rücken frei zu halten. Während aktive Kräfte an der NATO-Ostflanke im Baltikum stünden, verblieben die 42 Heimatschutzkompanien im Inland – mit dem Auftrag, kritische Infrastruktur zu sichern: Brücken, Stromtrassen, Wasserwerke, Munitionsdepots. Diese Anlagen gelten als mögliche Ziele russischer Sabotageeinheiten, die tief im westeuropäischen Hinterland operieren könnten. Sie unterstützen Polizei und Rettungsdienste bei Evakuierungen nach Drohnenangriffen oder großflächigen Stromausfällen. Und im äußersten Ernstfall sollen sie nicht nur bewachen, sichern und den Zivilschutz unterstützen, sondern auch in Gefechten feindliche Kräfte abwehren.



Nach dem Schießen folgt das Reinigen: Auf dem Truppenübungsplatz Hammelburg säubern Rekruten ihre G36-Sturmgewehre.






Im ersten von zwei Ausbildungsmodulen liegt die Gefechtsübung für die rund 60 Rekruten in Hammelburg noch in weiter Ferne. In den ersten Tagen haben sie die Grundlagen der soldatischen Ausbildung absolviert. Sie haben das Vokabular der Truppe gelernt, wie man funkt, sich mit Tarnschminke nahezu unsichtbar macht und wie man mit der Ordonnanzwaffe der Bundeswehr, dem G36, umgeht. An jenem Vormittag im Juni aber, einen Tag nach der Schießübung mit scharfer Munition, steht der praktische Teil der Wachausbildung an. Entlang des Kasernenzauns müssen die Rekruten Streife laufen – und auf unvorhersehbare Ereignisse mit verschiedenen Eskalationsstufen reagieren. Neben dem leblosen Soldaten treffen sie auf einen betrunkenen und bockigen Kameraden, der vor ihnen mit Bierflaschen herumfuchtelt, zwei freche Influencer, die live auf ihrem Handy streamen, wie sie sich auf das Kasernengelände schleichen, aber auch auf mit Kalaschnikows bewaffnete Saboteure, die Munition klauen wollen.

Die 47 Jahre alte Tanja Berger, die eigentlich anders heißt, übernimmt gleich zu Beginn die Rolle eines Streifensoldaten. Sie trifft auf einen jungen Rekruten, der mal ein wenig „chillen“ musste und sich mit aufgeknöpfter Feldbluse in ein Gebüsch gefläzt hat. Doch der hat in der bestreiften Zone nichts zu suchen. Nach einer kurzen, bestimmten Kontrolle des Dienstausweises muss der Rekrut die Gegend rund um den Zaun verlassen.







Das Tarnschminken wird geübt – genauso wie der Umgang mit aufmüpfigen Influencern, die sich für einen Livestream auf das Kasernengelände geschlichen haben und die Rekruten provozieren.






Für viele Menschen, die sich den Ungedienten anschließen wollen, war der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 ihre persönliche „Zeitenwende“. Der Moment, in dem sie ihre Entscheidung, den Kriegsdienst zu verweigern, korrigieren wollten. Seitdem sei das Interesse „enorm“ gestiegen, heißt es vom Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr.



„Meine Heimat im Verteidigungsfall zu schützen, ist eine große Motivation.“



Bei Tanja Berger war es ein Gespräch mit ihrer Ehefrau. „Warum warst du eigentlich nie bei der Bundeswehr?“, habe ihre Frau gefragt. Das habe sie nachdenklich gemacht. Also informierte sie sich im Internet und stieß auf das Programm. „Das Charmante ist: Es passt mit meinem jetzigen Beruf zusammen“, sagt Berger, die als selbständige Coachin für Kommunikation und Deeskalation arbeitet. Mehrere Monate freinehmen hätte sie nicht können, aber die knapp drei Wochen seien machbar. „Meine Heimat im Verteidigungsfall zu schützen, ist eine große Motivation“, sagt Berger, die in Hessen lebt. Als Reservistin würde sie ins hessische Heimatschutzregiment gehen, das Fünfte.










Der Oberleutnant findet das Programm sinnvoll für „jeden Bürger“. Und würde gerne mehr ausbilden, denn der Andrang sei ungebrochen. Der spiegelt sich auch in der Bandbreite der Rekruten: Über CEOs von Dax-Unternehmen und Herzchirurgen bis hin zu Busfahrern und Handwerkern sei alles dabei.

Wenn 2018 manch einer noch spottete, es handele sich um einen „Volkssturm 2.0“, ist die Anerkennung für die Leistung der Ungedienten und deren Ausbilder mittlerweile groß. Im aktuellen Wehrbericht wird die „hohe Motivation“ der Ungedienten gelobt, die sich auch in der „nahezu nullprozentigen Abbruchquote“ zeigt. Das Projekt verdeutliche, dass die Truppe mit „niedrigschwelligen Angeboten“ die Menschen besser erreiche. Wegen des „deutlich gestiegenen Interesses“ sei es „wünschenswert“, weitere Ausbildungs­kapazitäten zu schaffen.




Im Gelände: Bei der Ausbildung von Ungedienten zur Reserve steht auch Tarnung auf dem Programm. Hochkonzentriert hören die Rekruten ihrem Ausbilder zu.




Das hätte die Bundeswehr auch bitter nötig, ist sie doch auf jede Frau und jeden Mann angewiesen, die ihr beitreten wollen. Derzeit gibt es in Deutschland rund 170.000 aktive Soldaten und 60.000 beorderte Reservisten. Will die Bundeswehr verteidigungsfähig werden, müssen es mehr werden. Das weiß man auch im Bendlerblock. Bis 2030 will Verteidigungsminister Boris Pistorius auf 460.000 Mann aufstocken, davon 200.000 in der Reserve. Zu wenig, findet der Reservistenverband. Verbandspräsident Patrick Sensburg forderte gar im April ein „Massenheer“ mit bis zu einer Million Reservisten. Für den Verband gilt der Faktor „3x“: Auf einen Aktiven sollen drei Reservisten kommen. Bei geplanten 260.000 aktiven Soldaten in der Bundeswehr müsste die Reserve auf mindestens 780.000 Mann anwachsen. Die Ungedienten werden in der Reserve also dringend gebraucht.

Doch bei der Bundeswehr scheint das nicht jeder so zu sehen. Nach F.A.S.-Informationen soll der bald aus dem Amt scheidende Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, das Programm bei einem Vortrag der Deutschen Atlantischen Gesellschaft Anfang Juni in Mainz kritisiert haben. Ein Sprecher des Heeres bestätigte die Teilnahme des Generalleutnants an der Veranstaltung, ohne besagte Äußerungen von Mais zu dementieren oder zu bestätigen. Jedoch sei aus Sicht des Heeres die 21 Tage währende Ausbildung der Ungedienten nicht ausreichend, um sie für einen „Einsatz in der Landes- und Bündnisverteidigung zu befähigen“.




Das G36 ist die Ordonanzwaffe der Bundeswehr. Laut den Ausbildern steht die Schießübung der einer Grundausbildung qualitativ nicht nach.





Oberleutnanat Ferrara zeigt den Rekruten, wie sie sich richtig tarnschminken.





Blick auf den Schießstand des Truppenübungsplatzes in Hammelburg.





Streife laufen auf dem Kasernengelände.








Aus Kreisen der Bundeswehr heißt es, es gebe in den „oberen Etagen“ Befürworter und Gegner des Projektes, die gegeneinander arbeiteten. „Kritiker berufen sich auf eine bald kommende Wehrpflicht, die das Programm aus ihrer Sicht überflüssig machen würde“, sagt ein Soldat, der ungenannt bleiben möchte. Aus seiner Sicht eine unrealistische Einschätzung. Eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums sagte dazu: „Eine Reaktivierung der Wehrpflicht steht nicht zur Debatte und wird nicht angestrebt.“ Sie verwies auf das neue Wehrdienstmodell. Mais wird im September überraschenderweise von Pistorius in den Ruhestand versetzt. Wie sich sein designierter Nachfolger Generalmajor Christian Freuding gegenüber den Ungedienten verhält, wird sich zeigen.



„Kritiker berufen sich auf eine bald kommende Wehrpflicht, die das Programm aus ihrer Sicht überflüssig machen würde“



Oberst d. R. Joachim Fallert vom Reservistenverband sagt: „Das Heer hat an der Ausbildung kein Interesse.“ Auch über den aktuellen Stand beim Streitkräfteamt in Bonn, das die Zuständigkeit für die Ausbildung im Jahr 2026 übernehmen soll, zeigt sich der Landesvorsitzende des Reservistenverbandes in Baden-Württemberg nicht zufrieden. Zwar werde die Ausbildung durch das Amt regional vereinzelt geplant, jedoch mit so wenigen Ausbildungsplätzen, dass dies in Fallerts Augen einem „Rückschritt gleichkommt“. Der Oberst d. R. geht davon aus, dass man bis zu 5000 Ungediente pro Jahr für den Heimatschutz ausbilden könne, wenn man dafür werbe und die Ausbildungsunterstützung schaffe.




Kurze Verschnaufpause: Jäger Marie Winter (ganz links) ruht sich gemeinsam mit anderen Rekruten nach einer Wachübung aus.




Doch aktiv wirbt die Bundeswehr nicht für das Programm. Im Gegenteil: Interessenten werden teils vertröstet oder abgewiesen. Aufgrund der wechselnden Zuständigkeiten gibt es im Internet auch kein offizielles Informationsportal, das ausschließlich als Anlaufstelle an Interessenten an der Ungedienten-Ausbildung gerichtet ist. Dass potentielle Bewerber dennoch aktuell schnell Informationen finden, liegt an Blogs, die von Reservisten betrieben werden. Allein auf dem Portal „Kameraden in Norddeutschland“ hätten sich für 2026 schon 1000 Personen für eine Ausbildung zum Reserve-Soldaten gemeldet – auch wenn die Bundeswehr, so steht es in dem Blog, „aufgrund von Umstrukturierungen“ derzeit keine Bewerbungen annehme. Doch beim Reservistenverband ist man zuversichtlich, dass das Programm weiterlaufen werde. Pistorius soll sich nach Kenntnis der Organisation für eine Fortsetzung ausgesprochen haben.

Auf Nachfrage vermeidet das Verteidigungsministerium eine verbindliche Aussage zur Fortsetzung des Programms über 2025 hinaus. Zwar ist ein „flächendeckendes, ganzjähriges Ausbildungsangebot“ vorgesehen, doch verweist man auf eine laufende Prüfung, deren Ergebnis nicht vorweggenommen werden könne.