Die Potsdamer Rechtswissenschaftlerin und Kandidatin für das Verfassungsgericht Frauke Brosius-Gersdorf hat sich nach der gescheiterten Verfassungsrichterwahl am Dienstag zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen geäußert. Die Berichterstattung über sie sei in Teilen der Medien unsachlich und unzutreffend gewesen – geleitet von dem Ziel, ihre Wahl zu verhindern. „Die Bezeichnung meiner Person als ‚ultralinks‘ oder ‚linksradikal‘ ist diffamierend und realitätsfern“, heißt es in einer am Dienstagmorgen veröffentlichten Erklärung.
Kritik müssten sich auch einzelne staatliche Funktionsträger gefallen lassen. „Welchen Grund gibt es, sich als Mitglied einer Landesregierung, zumal aus dem Bereich der Justiz, in einer Debatte um eine Verfassungsrichterwahl anonym zu äußern?“, schreibt Brosius-Gersdorf. Selbst anonym an medialer Kritik bis hin zu Schmähungen anderer mitzuwirken und gleichzeitig für sich selbst Schmähungsschutz gegen verbale Angriffe zu fordern, stehe im Widerspruch.
Eine eingehende und vollständige inhaltliche Befassung mit ihren wissenschaftlichen Beiträgen hätte gezeigt, dass der Schwerpunkt ihrer Forschung das Verfassungs-, Sozial- und Bildungsrecht sei und dabei auch Themen wie die Regulierung und Finanzierung von Schulen, die Sicherung kommunaler Daseinsvorsorge in Deutschland, die Bewältigung des demografischen Wandels, die Reform unserer Sozialversicherungssysteme und die Digitalisierung der Verwaltung gehörten. „Ordnet man meine wissenschaftliche Positionen in ihrer Breite politisch zu, zeigt sich ein Bild der demokratischen Mitte“, so Brosius-Gersdorf.
„Dem menschlichen Leben steht ab Nidation das Grundrecht auf Leben zu“
Mit der Veröffentlichung ihrer Erklärung beauftragte sie den Bonner Rechtsanwalt Gernot Lehr von der Kanzlei Redeker Sellner Dahs. Zu den inhaltlichen Übereinstimmungen in ihrer Doktorarbeit und der Habilitationsschrift ihres Mannes Hubertus Gersdorf äußert sie sich nicht.
Ausführlich setzt sie indes sich mit den Vorwürfen gegen ihre Position zur Reform des Schwangerschaftsabbruchs auseinander, vor allem mit der Auffassung, sie spräche dem ungeborenen Leben die Menschenwürdegarantie ab und sei für einen Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt. Das sei falsch. „Dem menschlichen Leben steht ab Nidation das Grundrecht auf Leben zu. Dafür bin ich stets eingetreten“, entgegnet sie. Als Nidation – Einnistung – wird die Einbettung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutterschleimhaut bezeichnet, die etwa am sechsten Tag der Embryonalentwicklung stattfindet.
Richtig sei, dass sie auf das verfassungsrechtliche Dilemma hingewiesen habe, das bestehe, wenn man dem ungeborenen Leben ab Nidation die Menschenwürdegarantie zuerkennt wie dem Menschen nach Geburt. Unter der herrschenden Nichtabwägungsfähigkeit der Menschenwürde mit Grundrechten Dritter wie der Schwangeren wäre ein Schwangerschaftsabbruch unter keinen Umständen zulässig. Auch ein Abbruch wegen medizinischer Indikation bei Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit der Frau würde dann ausscheiden. „Es ist aber die seit langem bestehende Rechtslage, dass ein Abbruch bei medizinischer Indikation zulässig ist“, stellt die Rechtswissenschaftlerin fest, die als ihre Aufgabe sieht, auf Inkonsistenzen im bestehenden Recht hinzuweisen und Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
„Die Lösung kann verfassungsrechtlich nur sein, dass entweder die Menschenwürde doch abwägungsfähig ist oder für das ungeborene Leben nicht gilt.“ Diesen notwendigen verfassungsdogmatischen Erörterungsbedarf habe sie aufgezeigt, ohne jedoch die Position zu vertreten, dass ungeborenes Leben schutzlos sei, ganz im Gegenteil: Selbst wenn die Menschenwürde erst von der Geburt an gelten sollte, wäre das ungeborene Leben nicht schutzlos. „Ihm steht ab Nidation das Grundrecht auf Leben zu, wofür ich stets eingetreten bin.“ Der Vorwurf, sie trete für einen Schwangerschaftsabbruch bis zur Geburt ein, entbehre jeder Grundlage.
Die Frage des Kopftuchverbots
Sodann geht Brosius-Gersdorf auf die Auseinandersetzung um das religiöse Kopftuch bei Rechtsreferendarinnen ein und erläutert, dass sie nur auf die Unterschiede in der Rechtsprechung beim Umgang mit dem Neutralitätsgebot des Staates beim Kopftuchverbot für Lehrerinnen an staatlichen Schulen und Rechtsreferendarinnen hingewiesen habe. „Während ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen an staatlichen Schulen verfassungsrechtlich nicht zulässig sein soll, soll ein entsprechendes Verbot für Rechtsreferendarinnen in bestimmten Situationen im Gerichtssaal zulässig sein. „Hierin habe ich einen Widerspruch gesehen“, schreibt Brosius-Gersdorf.
In beiden Fällen sei zwischen dem Staat, für den ein Neutralitätsgebot (Identifizierungsverbot) gilt und den Staatsbediensteten, die ihre grundrechtliche Freiheit ausübten, zu unterscheiden. Der Staat identifiziere sich nicht mit der Grundrechtsausübung der Bediensteten. „Daraus folgt aber nicht, dass ein Kopftuchverbot stets verfassungswidrig wäre.“ Denn auch wenn sich ein Kopftuchverbot für Amtswalter nicht auf das Neutralitätsgebot für den Staat stützen lassen, könne es im Einzelfall durch das Mäßigungsgebot für Staatsbedienstete legitimiert sein.
Abschließend wehrt sich Brosius-Gersdorf gegen die Unterstellung, sie wolle durch Paritätsmodelle für die Wahl des Deutschen Bundestags Wahlgrundsätze wie die Wahlgleichheit aushebeln. Sie habe sich nur rechtswissenschaftlich mit der Frage auseinandergesetzt, ob das im Grundgesetz verankerte Gebot der Förderung der tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern Eingriffe in die Wahlgrundsätze rechtfertige. Diese Frage sei in der Rechtswissenschaft umstritten und höchstrichterlich nicht geklärt, so die Potsdamer Rechtswissenschaftlerin.
Fast 300 Professoren stellen sich hinter Brosius-Gersdorf
Am Montagabend stärkten auch rund 300 Professoren – nicht nur aus der Rechtswissenschaft – Brosius-Gersdorf in einem offenen Brief den Rücken. Zu den Unterzeichnern gehören die ehemaligen Verfassungsrichter Susanne Baer, Wolfgang Hoffmann-Riem, Gabriele Britz und Andreas Paulus. Hinzu kommen Rechtswissenschaftler wie Oliver Lepsius, Kai Ambos, Volker Epping, Tatjana Hörnle, Bodo Pieroth, ebenso wie die Medizinethikerin Alena Buyx, der frühere Staatsminister Julian Nida-Rümelin und andere.
Sie kritisieren den Umgang mit Brosius-Gersdorf. An der fachlichen Qualifikation der Kandidatin gebe es keine Zweifel. „Alle Äußerungen, die ihre wissenschaftliche Reputation in Frage stellen, sind daher schlicht unzutreffend und unsachlich“, heißt es in dem Brief. Der Umgang mit der Kandidatin sei geeignet, „mittelfristig über den Verfall der angemessenen Umgangskultur die gesamte demokratische Ordnung zu beschädigen”. Dies gelte auch für die Person selbst und die beteiligten Institutionen.
Kritik an juristischen Positionen oder anderen Meinungen sei legitim. Darstellungen aber von vornherein als „abseitig oder radikal einzuordnen“ sei durch Unkenntnis der rechtswissenschaftlichen Diskussion geprägt, heißt es weiter. Die Aussagen einzelner Bundestagsabgeordneter, Brosius-Gersdorfs Universität solle wegen dieser Positionen Maßnahmen gegen die Rechtswissenschaftlerin ergreifen, „stellen einen Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit selbst dar”. Gemeint ist offenbar die CDU-Abgeordnete Saskia Ludwig, die gesagt hatte, Brosius-Gersdorf müsse ihren Lehrauftrag ruhen lassen.
„Im Richterwahlausschuss eine Kandidatin zunächst zu bestätigen, um dann gegenüber ideologisierten Lobbygruppen und mit Unwahrheiten und Diffamierungen gespickten Kampagnen zurückzurudern, zeigt zumindest von fehlendem politischem Rückgrat und mangelnder interner Vorbereitung“, heißt es deutlich. Dass dann auch noch „ausgesprochen unglaubhafte Plagiatsvorwürfe als Vorwand für die Vertagung herhalten müssen“ und dadurch eine weitere Beschädigung der Kandidatin in Kauf genommen werde, sei ein Angriff auf das Ansehen der Wissenschaft. Bisher wurden die Textübereinstimmungen der beiden Qualifikationsarbeiten Frauke Brosius-Gersdorfs und ihres Mannes Hubertus Gersdorfs jedoch nicht überprüft.
Auch Richterbund äußert sich deutlich
Das Bundesverfassungsgericht und die deutsche Staatsrechtslehre hätten ihr hohes internationales Ansehen gerade auch durch die Verbindung von Verfassungspraxis und Verfassungsrechtswissenschaft gewonnen. Dies setze aber voraus, dass Rechtswissenschaftler, die sich daran beteiligen sollen, von der Politik vor Herabwürdigung geschützt werden. „Im Fall von Frauke Brosius-Gersdorf ist dies den dafür verantwortlichen Personen und Institutionen bisher nicht gelungen”, heißt es am Ende der Erklärung.
Mit einer weiteren deutlichen Stellungnahme hat sich Deutsche Richterbund zu Wort gemeldet. „Tagespolitische Interessen und Positionierungen in gesellschaftspolitischen Einzelfragen sollten im Nominierungsprozess nie in den Vordergrund geraten, weil sie den Eindruck von der Unabhängigkeit aller Bundesverfassungsrichter und in der Folge die Akzeptanz ihrer Entscheidungen beeinträchtigen können“, heißt es in einer Erklärung. Außerdem die „hohe fachliche und persönliche Reputation der Nominierten im Verfahren nicht beschädigt werden“.
Die Arbeitsfähigkeit und das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts seien von überragender Bedeutung für den demokratischen Rechtsstaat und das Gericht deswegen „nicht den Regeln der parteipolitischen Entscheidungsfindung unterworfen“. Das müsse bei der Wahl von Richtern bedacht werden. „Gerät ihre Wahl unter den Einfluss der Tagespolitik, kann dies langfristig zu einer nachteiligen Politisierung des Gerichts führen“, so die Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes Andrea Titz und Achim Scholz.