Die Frage, ob ein Baby gesund ist oder nicht, stellen sich nach der Geburt wohl alle Eltern. Tatsächlich bekommen sie bald eine Antwort: In Deutschland werden alle Neugeborenen wenige Tage nach der Geburt auf 19 verschiedene Erkrankungen getestet, die, wenn sie früh diagnostiziert werden, oft gut behandelt werden können.
Dafür wurde bislang ein Tropfen Blut auf bestimmte Moleküle untersucht. Derselbe Tropfen Blut könnte in Zukunft genutzt werden, um das Genom eines Säuglings zu entschlüsseln – und damit viel mehr Wissen über seine Gesundheit zu erhalten. „Es sind derzeit etwa 8000 seltene genetische Erkrankungen bekannt, die mit genetischen Methoden erkannt werden können“, sagt Ulrike Mütze, Funktionsoberärztin in der Neuropädiatrie und Stoffwechselmedizin an der Uniklinik Heidelberg.
Aber sollte diese Möglichkeit auch genutzt werden? „Natürlich klingt es sinnvoll, eine Krankheit möglichst früh zu diagnostizieren“, sagt Mütze. „Aber nur etwa ein Zehntel dieser Erkrankungen lässt sich aktuell auch behandeln.“
Vor diesem Hintergrund hat sich eine Gruppe aus Medizinern, Psychologen, Philosophen und Rechtswissenschaftlern drei Jahre lang mit den Fragen rund um ein genetisches Neugeborenenscreening, kurz gNBS, beschäftigt. Die Forschungsgruppe mit dem Namen New Life hat ihre Ergebnisse am Freitag in Heidelberg präsentiert. Ihr Resümee: Der Gentest für Neugeborene sollte zum Standard werden. Aber er muss klaren Regeln folgen, und nur ein Bruchteil der möglichen Diagnosen sollte gestellt werden.
Aus dem Projekt ist ein Katalog von 18 Kriterien entstanden. Sie definieren die Rahmenbedingungen für ein deutschlandweites gNBS-Programm. Und sie grenzen die Anzahl der dafür infrage kommenden Erkrankungen ein: Von den 8000 zur Debatte stehenden Krankheiten sollen nach Einschätzung der Experten nur etwa 200 an Neugeborenen diagnostiziert werden dürfen.
Denn die technischen Möglichkeiten voll auszuschöpfen und Säuglinge auf alle Krankheiten zu testen, würde auch bedeuten, dass Eltern wenige Tage nach der Geburt ihres Kindes mit der Diagnose einer unheilbaren Krankheit konfrontiert sein könnten. Das ist nicht nur emotional belastend, sondern führt auch zu großer Unsicherheit. Denn selbst wenn sich bestimmte Genvarianten im Erbgut befinden, ist oft unklar, wann und ob überhaupt Symptome auftreten werden. „Gentests sind keine Diagnose im eigentlichen Sinne. Sie spezifizieren nur das Risiko für eine bestimmte Diagnose“, sagt Philosophin Karla Alex aus der Arbeitsgruppe.
Ausschlaggebend ist daher unter anderem, wie sicher der Fund einer be-stimmten Genvariante zum Ausbruch einer Krankheit führt. Diese sogenannte Penetranz sollte bei über 80 Prozent liegen, so die Experten. Andernfalls würden die Diagnostizierten zu „Patienten in der Warteschlange“. Was nicht nur eine lebenslange Belastung darstellt, sondern auch zu handfesten Nachteilen führen kann. Jemand, dessen Genom auf ein erhöhtes Risiko für Darmpolypen schließen lässt, könnte bei der Krankenversicherung benachteiligt oder von der Verbeamtung ausgeschlossen werden.
Sicherheit der Tests muss sein
Ein weiteres Kriterium: Die Tests müssen sehr präzise sein. „Angenommen, eine Erkrankung tritt nur in einem von 10.000 Fällen auf. Dann haben wir selbst bei einem Screening-Test mit 99-prozentiger Spezifität 100 falsch positive Ergebnisse“, erklärt Ulrike Mütze. Das würde bedeuten, dass 100 Elternpaare unmittelbar nach der Geburt fälschlicherweise darüber informiert würden, dass ihr Kind schwer krank ist. Bis weitere Tests Klarheit bringen, müssen sie mit diesem Urteil umgehen.
Zunächst sollen auch nur solche Krankheiten zur Diagnose zugelassen werden, bei denen Kinder in den ersten sieben Lebensjahren bereits Symptome zeigen. „Das Li-Fraumeni-Syndrom zum Beispiel geht mit einer hundertprozentigen Wahrscheinlichkeit einher, im Erwachsenenalter Krebs zu bekommen“, sagt Nicola Dikow, Oberärztin in der genetischen Poliklinik des Uniklinikums Heidelberg. Für Kinder ist diese Gefahr zwar auch gegeben, aber die Wahrscheinlichkeit deutlich geringer. „Wir müssen uns fragen: Was würde eine solche Diagnose für einen Säugling bedeuten?“ Regelmäßige Check-Ups, MRT-Untersuchungen, bei denen das Kind narkotisiert werden müsste – zusätzlich zum ohnehin schon belastenden Wissen um die Diagnose.
Auch auf Brustkrebs werden Neugeborene künftig nicht gescreent werden – obwohl sich das Risiko dafür ziemlich zuverlässig per Gentest vorhersagen lässt. Die Wahrscheinlichkeit, mit einer entsprechenden Gen-Risikovariante an Brustkrebs zu erkranken, liegt bei bis zu 80 Prozent – allerdings ebenfalls erst im Erwachsenenalter. Man kann mit der Diagnose also warten, bis das Kind älter ist. „Hier spielen auch Fragen der Selbstbestimmung eine Rolle“, sagt Christian Schaaf, Ärztlicher Direktor am Institut für Humangenetik des Uniklinikums Heidelberg. Ein Neugeborenes kann nicht entscheiden, ob es um ein erhöhtes Brustkrebsrisiko wissen will. Eine junge Frau schon. Und erst im Erwachsenenalter folgt aus dem Wissen auch medizinischer Handlungsbedarf.
Es muss eine Behandlungsoption geben
Eine der etwa 200 Krankheiten, die mit dem gNBS diagnostiziert werden könnten, ist Morbus Pompe, eine seltene Stoffwechselerkrankung, die oft innerhalb des ersten Lebensjahres zum Tod führt. Ebenso das Segawa-Syndrom, das sich in Muskelkrämpfen und Spasmen äußert, die ein normales Leben unmöglich machen. „Mit entsprechenden Medikamenten können die Betroffenen völlig symptomfrei leben“, sagt Schaaf. Bei frühzeitiger Diagnose per Gentest könnten die Kinder normal aufwachsen.
Die wohl wichtigsten Kriterien sind, dass die Krankheiten schwerwiegend sind und dass eine Behandlung existiert. „Allerdings ist es gar nicht so einfach, zu definieren, wo Behandelbarkeit anfängt“, sagt Amicia Phillips, Bioethikerin von der University of Exeter in Großbritannien. „Nur weil es gegen eine Krankheit keine medizinische Therapie gibt, heißt das nicht, dass sie nicht behandelbar ist.“ Genetische Erkrankungen sind in der Regel nicht heilbar. Eine Behandlung kann bedeuten, durch Medikamente oder eine Anpassung des Lebensstils Symptomen vorzubeugen oder sie zu lindern oder regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen.
Selbst wenn die Medizin machtlos ist, heißt das nicht, dass aus einer Diagnose kein Handlungsbedarf für die Eltern folgt, sagt Phillips: „Sie könnten sich etwa frühzeitig dafür entscheiden wollen, in eine Gegend zu ziehen, wo es eine Schule mit entsprechendem Förderbedarf gibt. Sie könnten sich Selbsthilfegruppen anschließen oder eine Entscheidung treffen, ob sie weitere Kinder haben wollen – und welche Vorsorgemaßnahmen dann zu treffen wären.“ In einer Umfrage im Rahmen des New-Life-Projekts gaben knapp drei Viertel der befragten Eltern an, sie würden um die Diagnose ihres Kindes wissen wollen – auch ohne Aussicht auf medizinische Behandlung.
„Ein genomisches Neugeborenen-screening bietet die Möglichkeit, zahl-reiche Erkrankungen frühzeitig zu er-kennen und zu behandeln“, sagt Ulrike Mütze. Der medizinische Nutzen steht außer Frage. Dank des gängigen Früherkennungs-Screenings spielten viele schwerwiegende Erkrankungen heute kaum noch eine Rolle.
Bis das genetische Screening kommt, wird es noch dauern. „Zunächst muss weitere Forschung folgen“, sagt Christian Schaaf. Das aktuelle Projekt habe den ethischen Rahmen abgesteckt. „Ich könnte mir vorstellen, dass das gNBS in acht bis zehn Jahren auch in der Breite zum Einsatz kommt.“ Bis dahin wird man davon profitieren, dass andere Länder weiter sind: In Großbritannien wird seit dem vergangenen Jahr das Erbgut von 100.000 Neugeborenen komplett sequenziert. Beim „Newborn Genomes Program“ soll praktisch überprüft werden, wie sinnvoll ein solches Screening ist – und welche Hürden sich auftun. In den USA und in China laufen ähnliche Pilotprojekte. Felix Kun