Mailand steht angeblich niemals still. Keine andere Großstadt Italiens zieht in gleichem Maße nationale und internationale Investoren an. In der lombardischen Metropole wird auch mehr gebaut als anderswo, weil die Stadtverwaltung als vergleichsweise effizient gilt. Mailand ist freilich auch die teuerste Stadt Italiens, dessen zentrumsnahe Viertel viele Bewohner verlassen müssen, weil das Wohnen dort zu teuer geworden ist. Vor diesem angespannten Hintergrund hat die Mailänder Staatsanwaltschaft in diesen Tagen Untersuchungen gegen 74 Personen eingeleitet, darunter den Bürgermeister Beppe Sala und den Stararchitekten Stefano Boeri.
Es geht es um mutmaßliche Kungeleien zwischen Bauherren, Architekten und hochrangigen Mitarbeitern der Stadtverwaltung. Der Verdacht lautet auf Korruption, Urkundenfälschung, illegale Beschleunigung von Baugenehmigungen und Vertuschung von Interessenkonflikten. Große Bauprojekte wie das Olympische Dorf für die Winterspiele im kommenden Jahr oder das Fußballstadion San Siro sind zum Zankapfel geworden.
Für die italienischen Medien, die von den Justizbehörden mit immer neuen Elementen gefüttert werden, ist die Affäre der Skandal des Jahres, wobei noch lange nicht alle Karten auf dem Tisch liegen. Gegen sechs vermeintliche Hauptverantwortliche hat die Staatsanwaltschaft Untersuchungshaft oder Hausarrest beantragt. An diesem Mittwoch wird ein Richter entscheiden, ob er dem Antrag stattgibt.
Kommission unter Druck mächtiger Architekten und Bauunternehmen
Die seit drei Jahren ermittelnde Staatsanwaltschaft hat Büros durchsucht, Telefongespräche abhören lassen und Bargeld sichergestellt. Der Architekt Boeri soll ungebührlichen Druck auf den Bürgermeister für die Genehmigung seiner Projekte ausgeübt haben, für ihn liegt jedoch kein Haftantrag vor. Im Mittelpunkt der Ermittlungen steht stattdessen eine städtische Landschaftskommission, ohne deren Plazet kein Bauprojekt genehmigt worden ist. Sie besteht vor allem aus Mitgliedern des Privatsektors, darunter etliche Architekten, die vom Bürgermeister ernannt wurden.
Vorsitzender dieser Kommission war jahrelang der Architekt Giuseppe Marinoni, den Bürgermeister Sala trotz seiner Interessenkonflikte und einer schon laufenden Untersuchung gegen ihn bis 2028 in seinem Amt bestätigte. Marinoni wird vorgeworfen, seit 2021 ein geheimes „Schatten-Raumordnungskonzept“ entwickelt zu haben, das private Interessen der Immobilienbranche über das Wohl der Öffentlichkeit stellte. Seine Kommission soll städtebauliche Projekte unter dem Druck mächtiger Akteure des Architektur- und Baumilieus genehmigt haben.
Fast vier Millionen Euro an Bestechungsleistungen
Zu diesem Netzwerk gehören laut der Ermittlungen Manfredi Catella, der Präsident des in Mailand sehr einflussreichen Immobilien-Entwicklers Coima, zudem der für urbane Entwicklung zuständige Stadtrat Giancarlo Tancredi sowie Federico Pella, Geschäftsführer und Partner des Planungsbüros J+S. Marinoni soll mit Architekten und Immobilienentwicklern, darunter auch eine Schweizer Gesellschaft, eng Informationen über Planungen und Projekte ausgetauscht haben, bevor sie ausgeschrieben wurden. Die Gegenleistung bestand den Ermittlern zufolge vor allem aus Beratungsverträgen für Marinoni und andere Mitglieder der Kommission. Wenn die Kommission über Bauprojekte abstimmte, soll sich Marinoni trotz seiner Befangenheit nicht der Stimme enthalten haben. Die Staatsanwaltschaft schätzt, dass die Bestechungsleistungen einen Wert von fast vier Millionen Euro erreicht haben.
Die Bauszene und die Staatsanwaltschaft von Mailand liegen sich schon länger in den Haaren. Im vergangenen Jahr waren rund 150 Projekte von den Behörden blockiert worden, weil die Justizbehörden den Verstoß gegen Bauvorschriften durch die Stadtverwaltung vermutete. Mailand hat sich immer gerühmt, im Gegensatz zu andern italienischen Städten Projekte schnell zu genehmigen und so die Zahl der Brachflächen zu verringern. Um die entsprechende Interpretation der Vorschriften auch auf nationaler Ebene abzusichern, hatten Mailänder Politiker unter dem Titel „Rettet Mailand“ ein neues Gesetz gefordert, das in Rom inzwischen jedoch blockiert ist. Der nun verdächtigte Stadtrat Tancredi sagte der F.A.Z. im Januar: „Es gibt keine Korruption, keinen Austausch von Geld oder dergleichen, sondern nur die Ansicht der Staatsanwaltschaft, dass wir die Gesetze anders anwenden müssten.“
Untersuchungen mit dem „Schleppnetz“
Kritiker der Staatsanwälte warnen heute denn auch vor einem politischen Feldzug gegen „das Modell Mailand mit seinen öffentlich-rechtlichen Partnerschaften“. Der ehemalige Staatsanwalt und frühere Infrastrukturminister Antonio Di Pietro rügte in einem Zeitungsinterview Ermittlungen, bei denen die Staatsanwälte „wie Schleppnetzfischer“ alles und jedes untersuchen. „Vielleicht denken die Richter, dass eine Beratung, die jemandem erteilt wird, ein korruptes Geschäft ist, aber vielleicht ist die Beratung vielmehr eine echte Notwendigkeit.“ Laut Di Pietro kann man keinen kleinen Bautechniker für die Errichtung eines Hochhauses beauftragen, „sondern man muss sich auf jemanden verlassen, der diese Arbeit beherrscht und schön öfter erledigt hat“. Dagegen beklagt der aktuell ermittelnde Mailänder Staatsanwalt Marcello Viola in den Ermittlungsakten – wenig juristisch – eine „unkontrollierte Expansion der Bauwirtschaft“.
Doch ging die „Zusammenarbeit“ mit dem Privatsektor in Mailand zu weit? Die dortige Genehmigungspraxis sah etwa auch vor, dass unter der offiziellen Erklärung einer „Restrukturierung“ anstelle einer dreistöckigen Villa ein Hochhaus errichtet werden durfte. Verschiedene Anlieger liefen dagegen Sturm.
Schon im März war der für die Stadtverwaltung arbeitende Architekt Giovanni Oggioni unter Hausarrest gestellt worden, weil er als Gegenleistung für seine Genehmigungen mutmaßlich Beratungsmandate für sich und für seine Tochter erhielt, die auch Architektin ist. Sein Schwiegersohn soll bei einem Bauverband eingestellt worden sein. Offenbar wurden auch Gebühren zugunsten der Bauunternehmen gesenkt und Vorschriften ausgehebelt, die neben der Wohnraumschaffung Parkplätze und Grünflächen vorschreiben.