Die italienische Regierung hat kurz vor Fristablauf Einspruch gegen die umstrittenen Änderungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eingelegt. In einem am Freitag unterzeichneten Schreiben an WHO-Chef Tedros Ghebreyesus teilte der italienische Gesundheitsminister Orazio Schillaci diesem mit, dass Rom die am 19. September 2024 verabschiedeten Änderungen der IGV ablehne.
Die Bestimmungen betreffen vor allem das globale Management künftiger Pandemien. Jene Staaten, die sich nicht gegen die IGV ausgesprochen haben, verpflichten sich dazu, die Bestimmungen eines von der WHO ausgerufenen „pandemischen Notfalls“ zu befolgen und bei dessen Bekämpfung gemeinsam „mehr Solidarität und Gerechtigkeit“ erreichen zu wollen. Für alle WHO-Mitgliedstaaten treten die IGV in Kraft, sofern binnen einer Widerspruchsfrist von 10 Monaten kein Widerspruch eingelegt wird. Die von der WHO von den üblichen 18 Monaten verkürzte Widerspruchsfrist lief am 19. Juli ab.
Der Nuklearmediziner Schillaci ist parteilos, steht aber der von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni geführten rechtskonservativen Partei Brüder Italiens nahe. Die Regierung in Rom begründete ihren Einspruch gegen die IGV mit nicht hinnehmbaren Einschränkungen der nationalen Souveränität im Gesundheitssektor und mit möglichen negativen wirtschaftlichen Auswirkungen auf das Land. „Viele nationale Wirtschaftsressourcen hätten auf Grundlage der IGV und nach Ermessen des WHO-Direktors für internationale Bedürfnisse bereitgestellt werden müssen“, sagte der Fraktionsvorsitzende der Brüder Italiens im Senat, Lucio Malan. Die Regierung habe deshalb richtigerweise beschlossen, „das nationale Interesse und das der Italiener an die erste Stelle zu setzen“, sagte Malan.
Austritt aus der WHO gefordert
Auch Senator Claudio Borghi von der rechtsnationalen Lega, der zweitstärksten Kraft der Mitte-rechts-Koalition Melonis, begrüßte die Entscheidung als „sehr positiv“. Borghi forderte die Regierung auf, dem Beispiel der USA zu folgen und ganz aus der WHO auszutreten. Die WHO sei ein „nutzloser Moloch“ und eine „Geldverschwendungsmaschine“, die nur den Interessen einiger weniger multinationaler Pharmakonzerne diene, sagte Borghi.
Francesco Boccia, Fraktionsvorsitzender der oppositionellen Sozialdemokraten im Senat, bezeichnete die Entscheidung der Regierung als unvernünftig. Rom verfolge einen „absurden Souveränitätsgedanken“, der das Land weiter isoliere. Im Falle der Verkündung einer pandemischen Notlage durch die WHO drohe für Italiener ein faktisches Reiseverbot in Länder die den IGV zugestimmt hätten.
Die Südtiroler Landtagsabgeordnete Renate Holzeisen begrüßte den Schritt der Regierung in Rom. Die Juristin und Rechtsanwältin gehört zu den schärfsten Kritikern der Pandemiemaßnahmen in Italien der Jahre 2020 bis 2022, die von Regierungen der Ministerpräsidenten Giuseppe Conte und Mario Draghi über das Land verhängt worden waren. Holzeisen hatte bereits vor dem Schritt von Gesundheitsminister Schillaci mit einem Beschlussantrag im Landtag in Bozen gefordert, dass sich auch die autonome Provinz Südtirol klar gegen die IGV-Änderungen positionieren solle.
Holzeisen hatte vor einer aus ihrer Sicht gefährlichen Kompetenz- und Machtverschiebung hin zu einer internationalen Organisation wie der WHO gewarnt, die zudem stark unter dem Lobbyeinfluss der Pharmazieindustrie stehe. Im Juni war Holzeisens Initiative im Landtag jedoch auf breite Ablehnung gestoßen. Landeshauptmann Arno Kompatscher von der christdemokratischen Südtiroler Volkspartei (SVP) hatte die Bedenken der Abgeordneten als „lächerlich“ bezeichnet. In der autonomen Provinz in Norditalien regiert die SVP zusammen mit den Brüdern Italiens. Holzeisen sieht sich durch den Einspruch Roms gegen die IGV nun bestätigt und kritisiert die Zustimmung Brüssels zu den Vorschriften.
Die Linksregierung unter Giuseppe Conte hatte in Italien zu Beginn der Pandemie 2020 scharfe Maßnahmen wie monatelange Lockdowns und Schulschließungen ergriffen. Die Nachfolgeregierung unter dem früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi führte von Februar 2021 an diese Politik fort und verfügte zudem eine berufs- und einrichtungsbezogene Impfpflicht. Ob die Pandemiemaßnahmen effizient und verfassungsrechtlich legitim waren, soll ein von der Mitte-rechts-Koalition eingerichteter Untersuchungsausschusses prüfen.