Mit Campingstühlen und Anglerhut gegen Migranten

16

Der weiße Transporter fährt in einer Autoschlange im Schritttempo über die Stadtbrücke, die Frankfurt/ Oder mit Słubice in Polen verbindet. „Da, sehen Sie’s, nicht kontrolliert!“, ruft Ewa, die an der polnischen Seite des Brückenkopfes steht. „Da könnte doch alles Mögliche drin sein!“

Der polnische Grenzschutz hat auf der anderen Straßenseite einen Kontrollpunkt eingerichtet, die Beamten schauen von beiden Seiten in die Fahrzeuge, winken stichprobenartig einzelne heraus. Der weiße Lieferwagen, auf dem Werbung für eine Baufirma steht, gehört nicht dazu. Er fährt in den Kreisverkehr und biegt in Richtung Zentrum ab. Ewa, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, winkt ab. „Alles nur pro forma, ist doch alles nur Show.“

Ewa ist 72 Jahre alt und heute wie in den vergangenen Tagen schon zeitig auf den Beinen. Sie trägt eine gelbe Warnweste, auf der in roten Buchstaben „Ruch Obrony Granic“ (ROG) steht, was so viel wie „Grenzschutzbewegung“ bedeutet. Gemeinsam mit zwei Männern – einer mit Schiebermütze, der andere mit Anglerhut –, die etwa im gleichen Alter sind und auch ROG-Westen tragen, hat sie vor einem Kiosk direkt an der Brückenauffahrt Richtung Deutschland Posten be­zogen. Sie haben drei Campingstühle und einen Sonnenschirm aufgestellt und zwischen zwei polnischen Flaggen ein Plakat mit der Forderung „STOP Imigracji“ (Immigration stoppen) aufgespannt.

Sichtprüfungen und Stichproben

Von hier aus haben sie die polnischen Grenzer auf der anderen Straßenseite fest im Blick. Seit 7. Juli kontrolliert auch Polen bei der Einreise aus Deutschland, so wie Deutschland seit zwei Jahren Ein­reisende aus Polen. Beide Regierungen sprachen von einer „Wiedereinführung“ der Kontrollen, doch ein Zurück zur Vor-Schengenzeit gibt es auf keiner Seite. Die Beamten machen lediglich Sichtprüfungen und Stichproben, wobei der polnische Grenzschutz besser organisiert ist als der deutsche, der auf Autobahnen Lastwagen und Autos auf eine einzige Spur leitet, was zu erheblichen Verzögerungen und Ärger vor allem bei Pendlern führt, während Polen auf je einer Spur Transportfahrzeuge und Autos kontrolliert, wodurch Letztere deutlich zügiger vorankommen.

Sichtkontrolle: Deutsche Polizisten an der Grenze in Frankfurt/Oder
Sichtkontrolle: Deutsche Polizisten an der Grenze in Frankfurt/OderAFP

Dass nun auch Polen seine Grenzen kontrolliert, ist eine Reaktion auf Deutschland, aber auch auf den wachsenden innenpolitischen Druck. Der entstand im Frühjahr vor allem durch die Grenzschutzbewegung. Ihr Anführer ist ein 49 Jahre alter, nationalradikaler Ex­tremist namens Robert Bąkiewicz, der mal mit einer Handvoll, mal mit gut 200 Anhängern an Übergängen zu Deutschland auftauchte. Dort protestierten sie gegen die Zurückweisung von Mi­granten und warfen Polens Ministerprä­sident Donald Tusk vor, zum Nachteil des Landes zu handeln. Dessen „Regime“ unterstütze vielmehr „die antipolnischen Aktivitäten der Deutschen und schützt nicht die polnischen Grenzen“, erklärte Bąkiewicz. Deshalb seien die Bürger gezwungen, sich zu wehren und sich in der Grenzschutzbewegung als Form der Selbstverteidigung zu organisieren.

Ewa, die jetzt auf ihrem Campingstuhl Platz genommen hat, sagt, sie sehe das ganz genauso. „Deutschland schickt seine Migranten einfach nach Polen!“, ruft sie. „Aber was sollen die hier? Die passen doch gar nicht zu unserer Kultur. Merkel hat sie eingeladen, und wir sollen sie nehmen?“ Die Grenzkontrollen könne man vergessen, Tusk mache alles, was die Deutschen ihm sagten und was von der Leyen wolle. Schon 11.000 Migranten hätten die Deutschen zurückgeschickt, darunter auch Menschen, die vorher nie in Polen gewesen seien. „Denen werden Einkaufsbons aus polnischen Supermärkten untergeschoben als Beweis, dass sie zuvor in Polen waren!“ Woher sie das weiß? Sie habe das alles im Internet ge­sehen.

„Wir sind ganz normale Bürger“

Laut Bundesregierung hat Deutschland seit Verschärfung der Kontrollen Mitte Mai rund 700 Ausländer im Monat an der polnischen Grenze zurückgewiesen. Doch offiziellen Verlautbarungen glauben sie hier ohnehin nicht. Ewas Mitstreiter mit dem Anglerhut brummt, sie solle aufhören, mit der Presse zu reden. Das habe keinen Sinn, und am Ende lasse sie sich noch provozieren. „Danke schön!“, sagt er auf Deutsch in Richtung des Reporters und bittet, zu gehen. Ewa sagt, dass sie nichts zu verbergen und nicht gezögert habe, sich der Bewegung anzuschließen. „Wir sind ganz normale Bürger, wir kommen aus der Zivilgesellschaft.“ Anglerhut aber fordert jetzt Ruhe, sein Compagnon mit der Schiebermütze nickt. Sie hätten schließlich „viel Arbeit“. Ewa gibt klein bei, alle drei schauen jetzt konzentriert zu den Grenzbeamten. Die nehmen von den selbst ernannten Grenzschützern keine Notiz.

Aus dem anfänglichen Protest versuchte Bąkiewicz eine politische Bewegung zu formen. Dabei halfen vor allem das Internet und die sozialen Medien. Auf einer eigenen Internetseite stellte er Videos von den Grenzaktionen ein und formulierte vier Forderungen: Grenzkontrollen wieder einführen, EU-Migrationspakt kündigen, keine Infrastruktur mehr für Migranten bauen und die „Politik des Multikulturalismus“ ablehnen. Die polnische Kultur und traditionelle Werte müssten verteidigt werden. Seine Botschaften deckten sich mit denen der größten Oppositionspartei, der nationalkonservativen PiS. Führende Politiker der Partei begannen, Bąkiewicz zu loben und sich mit den selbst ernannten Grenzschützern zu zeigen. PiS-Chef Jarosław Kaczyński erklärte, dass Deutschland „regelmäßig illegale Migranten auf unsere Seite“ schicke, und warf der Regierung Versagen vor. „Der Staat hat abgedankt, Chaos und Straflosigkeit nehmen von Tag zu Tag zu.“

Der polnische Staat schien in der Tat abgedankt zu haben, doch anders, als Kaczyński meinte. Offiziell hatte Bakiewicz seine Leute aufgefordert, „Verstöße zu filmen und zu melden“, doch fühlten sich einige durch den Zuspruch bestärkt und fingen an, selbst zu kontrollieren. Für Aufsehen sorgte ein Fall am Grenz­übergang Guben, wo die Bundespolizei einem 18 Jahre alten Afghanen die Einreise verweigerte, die Zurückweisung aber an der Bürgerwehr scheiterte. Zweimal soll sie verhindert haben, dass der Mann nach Polen zurückkehrte, ohne dass polnische Behörden eingriffen und den Rechtsbruch ahndeten, berichtete der „Spiegel“. Polen schützt zwar strikt seine EU-Außengrenze, hat aber Migranten, die sie doch überwanden, stets nach Deutschland und Westeuropa „durchgelassen“.

Im Internet warb Bąkiewicz weiter um Spenden und Freiwillige, oder, wie er es formulierte: „Mutige, verantwortungsbewusste und einsatzbereite Menschen, die mit uns an der Grenze Dienst tun“. Darunter fanden sich auch Hooligans. Ende Juni bekam er dafür noch mehr Anerkennung. Die Lage an der Grenze sei „dramatisch“, behauptete der designierte Präsident Karol Nawrocki, der für die PiS die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte, in einem Interview und schob nach: „Ich möchte allen, allen voran Robert Bąkiewicz, dafür danken, dass sie die Funktion des Staates erfüllen, die die derzeitige Regierung nicht bewältigen kann.“ Amtsanmaßung und Rechtsbruch durch die „Bürgerwehr“ wurden damit auch noch von bald allerhöchster Stelle legitimiert.

Ein hybrider Krieg?

Zwei Tage später gab Tusk nach und ordnete an, Grenzkontrollen einzuführen. Für Bąkiewicz war das wie ein Ritterschlag. „Wir haben gewonnen!“, jubelte er. Man habe die Regierung zum Handeln gezwungen. Das sei ein „gemeinsamer Erfolg“ und der Beweis, dass „unsere Aktionen wirksam sind und einen echten Einfluss auf die Behörden haben“. Die PiS-Fraktion im Sejm, dem polnischen Par­lament, lud ihn offiziell zum Besuch ein. Dort sprach er Berichten zufolge unter Beifall der Abgeordneten von Deutschland als „Aggressor“, der beim Thema Grenze „eher unser Feind, der gegen uns einen hybriden Krieg führt“, sei. Zugleich drohte er, Tusks Regierung und Verwaltung, die er „Verräter an der Heimat“ nannte, bald zur Rechenschaft zu ziehen.

Migranten unerwünscht: Polnische Grenzer stehen vor einem Transparent der „Bürgerwehr“
Migranten unerwünscht: Polnische Grenzer stehen vor einem Transparent der „Bürgerwehr“AFP

Das unterschied sich kaum mehr von der PiS-Rhetorik. Für ihren Plan, die Regierung Tusk nach der verlorenen Präsidentschaftswahl schnell zu Fall zu bringen, bedient sich die Partei eines Radi­kalen, der bei Wahlen – zuletzt selbst auf PiS-Ticket – nie etwas gewonnen hat. Stattdessen machte Bąkiewicz andere Schlagzeilen. Er ging mit einer Straßenbaufirma pleite, überwarf sich mit einem nationalistischen Verein, dem er vorstand, verbreitete Verschwörungstheorien und schreckte vor Gewalt nicht zurück. Wegen des Übergriffs auf eine Abtreibungsbefürworterin wurde er zu einer Geldstrafe und zu einem Jahr gemein­nütziger Arbeit verurteilt. Nochpräsident Andrzej Duda aber, ebenfalls eng mit der PiS verbunden, begnadigte jüngst Bąkiewicz und erließ ihm die Verurteilung zu gemeinnütziger Arbeit. Duda begründete die Entscheidung unter anderem mit ei­ner „positiven Meinung der Bevölkerung“ gegenüber dem Verurteilten.

Das scheint zumindest für dessen Grenzaktivitäten zu stimmen. In einer Umfrage des Instituts Opinia 24 bewer­teten Mitte Juli 54 Prozent der befragten Polen die Arbeit der Bürgerwehr als po­sitiv. Das zeigt sich auch am Posten in Słubice. Passanten, die auf die Brücke laufen oder aus Frankfurt herüberkommen, grüßen Ewa und ihren Trupp, einige bleiben stehen, plaudern, auch Autofahrer hupen. Am Nachmittag bringt ein Ehepaar aus Berlin eine Sechserpackung Wasser und einen Beutel mit Essen vorbei. „Jute Initiative“, sagt der Mann, ein Deutscher. Seine Frau ist Polin, sie trägt ein schwarzes T-Shirt mit dem unter nationalpatriotischen Polen verbreiteten Slo­gan „Bóg, Honor, Ojczyzna“ (Gott, Ehre, Vaterland). Die Migration nehme überhand, sagt sie, und dass sie nicht wolle, dass in Polen bald Verhältnisse wie in Deutschland herrschten.

Anglerhut stellt die Essenstüte hinter den Sonnenschirm an einen Mauervorsprung. Dort stehen bereits drei weitere Plastetüten prall gefüllt mit Nahrung, die Passanten vorbeigebracht haben. Ewa sagt, sie könnten das alles gar nicht essen, so viele Leute seien sie ja nicht. Auf seinen Profilen in den sozialen Medien erweckt Bąkiewicz den Eindruck, eine Massenbewegung zu führen. Auf den Selfies, die er von seinen Besuchen an der Grenze verbreitet, ist aber stets nur eine Handvoll Menschen zu sehen – und mehr sind dann auch tatsächlich nicht da. Obwohl er dazu aufgerufen hat, auch nach Einführung der Grenzkontrollen präsent zu bleiben und die Kontrolleure zu kontrollieren, ist die Aktivität abgeflaut. Es finden sich nicht genügend Leute.

Anglerhut macht einen Inspektionsgang

Am Grenzübergang Kostrzyn (Küstrin) 30 Kilometer nördlich gibt es gar keine ROG-Patrouille. Vier Grenzbeamte lümmeln in der Abendsonne neben dem olivgrünen Abfertigungscontainer, den die Grenzpolizei an jedem Übergang auf­gestellt hat. Auf deutscher Seite der Oder ist die Lage ähnlich: wenig Verkehr, und auch Migranten sind keine zu sehen. Dann taucht auf polnischer Seite ein dunkelblauer Fiat Panda auf. Heraus steigt Anglerhut. Er läuft selbstbewusst auf die Grenzbeamten zu. Sie tauschen sich kurz aus, dann fährt er wieder ab. Die Frage, ob dieser Übergang zu seinem Verantwortungsbereich zählt, beantwortet er, siehe oben, nicht.

In Słubice ist unterdessen die Ablösung angekommen. Drei mittelalte Männer übernehmen die Abendschicht. Die Atmosphäre gleich jetzt eher einem Stammtisch, während die Sonne jenseits des Flusses hinter der Silhouette Frankfurts versinkt. Ewig aber bleiben auch sie nicht, denn sie müssen morgen arbeiten. Bąkiewiczs Bewegung versucht, an großen Übergängen wie Szczecin, Zgorzelec oder eben Słubice Dauerpräsenz zu zeigen. Doch am nächsten Morgen bleibt der Posten hier zunächst verwaist. Die gelben ROG-Westen baumeln an den Campingstühlen, während der Grenzverkehr weiterläuft; der Übergang ist rund um die Uhr geöffnet.

Gegen 10 Uhr taucht Anglerhut auf und macht erst mal einen Inspektionsgang über „seine“ Hälfte der Brücke. Er kon­trolliert die polnischen Flaggen, die sie hier vor zwei Tagen bei einem Besuch Bąkiewiczs am Geländer mit Kabelbindern angebracht haben. Am Tag danach hat die polnische Polizei deshalb die Personalien des Trios aufgenommen, angeblich weil eine Genehmigung zur Beflaggung fehlte. Ewa findet das empörend. „Auf unserer Seite dürfen wir doch unsere Fahne zeigen!“ Sie ist heute später gekommen, hatte noch einen Arzttermin. Schiebermütze, der Dritte im Bunde, fehlt ganz, er komme aus Posen (Poznań) – immerhin 170 Kilometer entfernt – und habe keine Zeit, sagt sie. Sie erzählt, dass die deutsche Polizei Migranten jetzt abseits der Übergänge auf Waldwegen zurück nach Polen bringe.

Die Papiere, bitte! Polnischer Grenzer überprüfen ein Fahrzeug
Die Papiere, bitte! Polnischer Grenzer überprüfen ein FahrzeugAFP

Ein Handyvideo, das eine deutsche Polizeistreife mit Auto auf einem Waldweg zeigt, macht seit Tagen in der Szene die Runde. Die Bundespolizei erklärte, dass die Vorwürfe „jeder Grundlage entbehren“. Die Polizei Neubrandenburg sagte dem „Tagesspiegel“, das Video sei in der Region entstanden. Dass die Polizei Migranten an die Grenze verbringe, sei „vollkommen haltlos“. Die Mitstreiter der polnischen Bürgerwehr aber glauben das nicht. Sie filmen selbst fleißig alles, was ihnen verdächtig erscheint, etwa unkontrollierte Transporter. Die Videos speisen sie dann ins Netz ein oder schicken sie an den PiS-Fernsehsender TV-Republika. Dort werden sie für Propagandazwecke genutzt.

So wird die „Wir gegen die“-Maschine am Laufen gehalten. Seinen jüngsten Besuch in Słubice hat Bąkiewicz auf der Plattform X in den ganz großen historischen Kontext gestellt. „Am Jahrestag der Schlacht bei Grunwald“ habe man „an den großen polnischen Sieg über den Deutschen Orden erinnert“, indem auf der Grenzbrücke die rot-weißen polnischen Fahnen aufgestellt wurden. Das sei an dieser Grenze besonders wichtig, weil „Deutschland hier eine systematische Expansion durchführt und lokale Eliten sich zunehmend als Europäer denn als Polen fühlen“.

Dabei gibt es auch die andere Seite beider Städte, die das Verbindende betont. „Frankfurt – Słubice – Ohne Grenzen/bez granic“, lautet der Slogan der Doppelstadt, der gemeinsame Stadtbus fährt nach wie vor über die Oder. Mit Schildern wie „Ge­gen Abschottung“ und „Die Doppelstadt bleibt solidarisch“ gibt es auch Gegen­protest. „Wir sind schon so weit zusammengewachsen“, sagt eine polnische Mutter, die mit ihren beiden Töchtern über die Brücke läuft. Ihre Kinder gingen in Frankfurt zur Schule, erst am vergangenen Wochenende habe die Stadt gemeinsam das Hansefest gefeiert. „Die Atmosphäre war diesmal anders, nicht so fröhlich wie sonst“, sagt sie. Die Kontrollen findet sie überflüssig, für die Leute der „Bürgerwehr“ hat sie eher Spott übrig. Die schliefen doch in ihren Sesseln öfter ein, sagt sie.

Ewa dementiert das selbstredend, auf das Miteinander aber wolle auch sie nicht verzichten. Wie sich herausstellt, lebt sie seit ihrem Renteneintritt auf der Frankfurter Seite. Sie ist Ärztin, habe lange in Westdeutschland gearbeitet und habe im Alter wieder näher an, aber nicht in ihr Heimatland ziehen wollen. Warum lässt sie offen, sie muss sich jetzt auf die Grenze konzentrieren. Sie werde Polen weiter gegen Migranten aus Deutschland verteidigen. Wie lange sie das durchhalten will? „Bis Tusk weg ist“, sagt sie. „Und das wird nicht mehr lange dauern.“