In seiner glasklaren Ansprache zu den Pflichten der Staaten, das Klima zu schützen und die ökologischen Fundamente des Lebens zu erhalten, hat der Internationale Gerichtshof nicht nur die Klimaverträge gestärkt. Er hat auch – überraschenderweise und einstimmig – eine immer wieder angezweifelte Marke betont: 1,5 Grad globaler Erwärmung über dem vorindustriellen Niveau sollten dauerhaft nicht überschritten werden. Dass die Haager Richter sich da festlegen und nicht, wie es angesichts der Zielfestlegung im Pariser Klimaabkommen möglich wäre, einen Puffer von bis zwei Grad einräumen, ist eine klare Ansage an die Politik: Die Menschheit ist mit ihren Emissionen schon jetzt gefährlich nahe an dem Punkt, den sicheren Raum unseres stabilen Klimas zu verlassen. Die Staaten müssten, so fordert das Gericht, mit der regelmäßigen Vorlage der nationalen Klimaziele alles tun, das 1,5-Grad-Limit einzuhalten. Aber ist das auch wissenschaftlich gerechtfertigt? Und realistisch?
Was die Orientierung an der niedrigeren, anspruchsvolleren Schwelle juristisch bedeutet, liegt auf der Hand: Klimaklagen sind völkerrechtlich einfacher begründbar. Reparationsforderungen betroffener Staaten wahrscheinlicher. Es macht den Klimaschutz ein Stück weit griffiger und gerechter. Eine saubere Umwelt und ein stabiles Klima sind wie die Gesundheit Menschenrecht. Ganz in dem Sinne, wie es sich auch der damalige Papst Franziskus in seiner ebenso überraschenden, unmissverständlichen Umweltenzyklika vor zehn Jahren gewünscht hat. Mehr aber als solches moralisches Wünschen bringen die hundertvierzig Seiten des Gerichtshofs zum Ausdruck, dass es Maßstäbe dafür braucht. Die Richter nehmen die Wissenschaften und ihre Erkenntnisse beim Wort.
Es stimmt ja, und auch das ist in dem juristischen Ratschlag aus Den Haag zu lesen, dass sich vielen Menschen die Erkenntnis der ökologischen Verheerungen entzieht, weil diese für die meisten nicht wahrnehmbar sind. 1,5 Grad mehr kann niemand fühlen, die „ernst zu nehmende Bedrohung“, die der IGH konstatiert, tut erst mal nur wenigen weh. Und doch sind die vielen empirischen Befunde für die Richter unhintergehbar: Jedes Zehntel Grad darüber hinaus destabilisiert das System und kann uns teuer zu stehen kommen. 1,5 Grad sind deshalb auch nach wie vor kein politischer Wert, wie immer noch oft behauptet wird.
Bleibt die Frage, wie viel Realitätssinn in dem Klimagutachten steckt. Tatsächlich war die 1,5-Grad-Marke zuletzt schon vereinzelt überschritten worden, nicht dauerhaft. Gleichzeitig steigen klimaschädliche Emissionen weiter an. Viele können sich fatalerweise immer noch darüber freuen, wenn wie jetzt vor der Ostsee neue Ölquellen entdeckt oder fossile Explorationen finanziell vorangetrieben werden – so, als wären die Risiken durch veraltete, schwerindustrielle Blütenträume nichtig zu machen. Und doch: Selbst die Aussicht auf ein – vorübergehendes – Überschreiten der 1,5-Grad-Marke in den nächsten Jahren hat die Richter nicht zur Abkehr von diesem Ziel bewegt. Warum? Ganz einfach: Weil die Lösungen für eine Trendumkehr und eine Rückkehr zur Stabilität auf dem Tisch liegen, getragen von reichlich wissenschaftlicher Evidenz. Was fehlt, ist weniger denn je ein Ziel, sondern die Zielstrebigkeit.