Wenn die Teilnehmer des Christopher Street Days an diesem Wochenende ihren Blick am Berliner Reichstag hinaufwandern lassen, bis zur Spitze des Südwestturms, dann sehen sie – nichts. Jedenfalls nicht, was sie an den vergangenen drei Christopher-Street-Tagen sehen durften: die Regenbogenflagge. Stattdessen wird auf dem Südwestturm, wie jeden Tag im Jahr, die deutsche Nationalflagge im Wind wehen.
Sie sollten sich nicht grämen. Zum einen verdient die schwarz-rot-goldene Flagge, die sich an diesem Tag so viele wegwünschen, mehr Kredit, als sie bei vielen „progressiv“ Denkenden hat. Zum anderen wird die Regenbogenflagge ja schon am 17. Mai, zum nächsten „Internationalen Tag der LGBTQ+-Community“ (mittelkurz: IDAHOBIT*), wieder gehisst werden. So hat es der Kanzler im Bundestag versichert.
CSD vs. IDAHOBIT*
Die Abgrenzung des CSD vom IDAHOBIT* ist ähnlich schwierig wie die zwischen Fahne und Flagge. Als Flagge bezeichnet man laut „Protokoll Inland“ ein meistens rechteckiges, ein- oder mehrfarbiges Tuch mit charakteristischem Muster und genormten Abmessungen. „Es wird mit einer Leine an einem Mast oder Stock gehisst und ist nicht dauerhaft damit verbunden. Im Unterschied dazu ist eine Fahne ein in der Regel durch Nägel unmittelbar, fest und dauerhaft mit einer Stange verbundenes Stück Tuch und damit zu einem in aller Regel tragbaren Einzelstück geworden. Während besonders im militärischen Zusammenhang der Verlust der eigenen Fahne Schmach bedeutet(e), kann eine Flagge problemlos ausgetauscht und durch ein neues Exemplar ersetzt werden.“
Während die Berliner Verkehrsbetriebe ihre Solidarität an der U-Bahn-Station Reichstag mit dem Befestigen von Regenbogenfahnen bekunden wollen, handelt es sich bei der Reichstagskontroverse im Kern um einen Flaggenstreit. Erwähnenswert ist dabei der „Erlass der Bundesregierung über die Beflaggung der Dienstgebäude des Bundes vom 22. März 2005“. Der seit den Fünfzigerjahren immer wieder reformierte Erlass regelt die Beflaggung öffentlicher Gebäude. Für normale Dienstgebäude sind zehn Termine festgelegt, an denen ohne Anordnung zu flaggen ist, etwa am jährlichen Tag der Arbeit oder der Einheit, aber auch an den nur alle paar Jahre wiederkehrenden Tagen der Bundestagswahl. Eine Ausnahme gilt für die „Dienstgebäude der obersten Bundesbehörden“, über denen die deutsche Flagge jeden Tag wehen muss. Der Bundestag ist zwar keine oberste Bundesbehörde, sondern oberstes Bundesorgan, aber im Reichstag sitzt auch die Bundestagsverwaltung, die wiederum eine oberste Bundesbehörde ist. Unjuristisch ausgedrückt: Auf dem Reichstag hat täglich Schwarz-Rot-Gold zu flattern.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Seit dem 6. April 2022 ist das anders. An jenem Tag ergänzte das „Protokoll Inland“ im SPD-geführten Bundesinnenministerium (BMI) den Flaggenerlass und erteilte „die grundsätzliche Genehmigung, dass die Regenbogenflagge auf Grundlage von Abschnitt IV. Abs. 4 des Erlasses der Bundesregierung über die Beflaggung der Dienstgebäude des Bundes vom 22. März 2005 (Beflaggungserlass) und unter Beachtung der im Schreiben genannten Maßgaben an Dienstgebäuden des Bundes gehisst werden darf“. Womöglich um dem dauerhaften Ersetzen der Deutschlandflagge durch die Regenbogenflagge vorzubeugen, fügte das BMI an: „Das Setzen der Regenbogenflagge muss sich auf einen konkreten Termin beziehen, entweder auf den Jahrestag des ‚Christopher Street Days‘ (CSD) oder auf einen örtlichen bzw. regionalen Anlass ähnlich der CSD-Veranstaltung.“ Eine Beflaggung am 17. Mai, dem internationalen Tag der queeren Community, kam den Flaggenexperten damals nicht in den Sinn. Dafür erteilten sie die Genehmigung, grundsätzlich auch mehrmals im Jahr die Regenbogenflagge zu hissen.
Als die Bundestagspräsidentin im Mai bekannt gab, dass die Flagge beim diesjährigen CSD eingerollt bleibt (und dafür am 17. Mai gehisst wird), bewirkte das ein mittleres Beben in der Regenbogenszene. „Hoch problematisches“ Verhalten sahen die Grünen und verlangten von der neuen Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, sich „für die Menschenwürde einzusetzen“, als entscheide sich das am Hissen einer Flagge am Christopher Street Day. Andererseits blieb ein bisschen rätselhaft, warum sich der Staat nun lieber am IDAHOBIT* solidarisch zeigen wollte.

Zunächst sah die Sache nach einem frühen faulen Kompromiss in der neuen Koalition aus. Wenn die eine Partei die Regenbogenflagge am liebsten gar nicht mehr auf dem Reichstag sehen will und die andere gleich zweimal im Jahr, lautet die Lösung – genau. Man schien auch den Pragmatismus des Kanzlers ablesen zu können: Zweimal im Jahr „Zirkuszelt“ geht nicht. Einmal schon.
Oder hatte die regenbogenskeptische Union einfach nur schlecht verhandelt? Hätte sie gefordert, statt der Regenbogenflagge zweimal im Jahr die internationale Flagge der Abtreibungsgegner zu hissen (zwei Hände, die zwei Kinderfüßchen halten), wäre der Kompromiss vermutlich ein anderer gewesen: Dann lieber gar nichts.
Korrektur der Korrektur
Aber so kulturkämpferisch war die ganze Angelegenheit offenbar nicht. Der F.A.S. ist ein Dokument bekannt, mit dem das BMI wenige Tage vor dem Abtritt der Restampelregierung eine Korrektur der Korrektur vornahm. In diesem Schreiben vom 28. April 2025 werden die Anlässe nicht nur dahingehend erweitert, dass auch „bspw. der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie (IDAHOBIT) oder der Diversity-Tag“ zu den Flaggenanlässen zu zählen sei. In fetter Schrift heißt es außerdem: „Ist die Regenbogenflagge bereits zu einem Ereignis gesetzt worden, darf sie zu keinem weiteren Ereignis innerhalb desselben Kalenderjahres mehr gesetzt werden.“
Im BMI wird das Schreiben bestätigt. Einer Beteiligung der damaligen Ministerin Nancy Faeser habe es „nicht bedurft, weil es sich lediglich um Klarstellungen im Rahmen der nach wie vor bestehenden Genehmigung“ gehandelt habe. Diese Klarstellungen schufen aber eine neue Lage: Plötzlich musste sich die Bundestagspräsidentin für einen Tag entscheiden. Der – je nach Lager – verteufelte oder gepriesene Kulturkampf Klöckners war wohl in Wahrheit die Reaktion auf einen Protokollbeamten.

Es bleibt die Frage, warum die neue BMI-Führung nicht einfach zur bewährten Praxis vor 2022 zurückgekehrt ist: Auf dem Reichstagsgebäude wehen nur Flaggen, die alle Bürger miteinbeziehen, also die deutsche und die europäische – und, aus Höflichkeit gegenüber Staatsgästen, die jeweilige ausländische. Der sympathisch lässige Einwand des Berliner CSD-Vorstands Thomas Hoffmann, dass es „doch niemandem wehtut, die Regenbogenflagge zu hissen“, übersieht, dass, was heute nicht wehtut, morgen Schmerzen verursachen kann. Denn eine restriktive Auslegung des Beflaggungserlasses ist nur vordergründig illiberal. An diesem Wochenende mag sie eine Gruppe treffen, deren „Cause“ breite Anerkennung in der Gesellschaft genießt. Aber was ist, wenn sich der Zeitgeist dreht und irgendwann eine AfD-geführte Regierung Flaggen mit ganz anderer Stoßrichtung auf dem Südwestturm platzieren will? Dann freuen sich die Teilnehmer des CSD, so er noch erlaubt ist, wenn sich die Illiberalen mit dem Beflaggen schwertun, weil sie sich auf keinen Präzedenzfall berufen können.
Dem staatlichen Bekenntnis zum Regenbogenaktivismus, ob eintägig, zweitägig oder mehrtägig, haftet etwas Beliebiges an. Es zwingt den Staat zu begründen, warum es nicht auch anderen Zwecken zuteilwird. Mit welchem Recht wollte er etwaige Forderungen von Frauen oder Behinderten ablehnen, an symbolträchtigen Tagen auch ihre Flagge – die „Disability Pride Flag“ oder die „UN Women Flag“ – hissen zu lassen? Sollen die halt auch auf dem Dach wehen, mögen Leute wie Thomas Hoffmann vom CSD sagen. Aber wie sähe die Lage aus, würden sozial schwache weiße Männer um Flaggenunterstützung bitten, deren Benachteiligung lange Zeit übersehen wurde – jene also, die in der angelsächsischen Welt oft als „White Trash“ verunglimpft werden?
„Sichtbar gemachter Wind“
Flaggen sind Symbole von Träumen, Träger von Hoffnungsbildern; sie sind, nach Elias Canetti, „sichtbar gemachter Wind“. Andererseits schaffen sie oft Ärger. Wo Gemeinsames definiert wird, fällt das Nichtgemeinsame gerne heraus. Auch können Flaggen lügen. Im Mittelalter mordeten die Ordensritter mit dem christlichen Kreuz auf der Fahne. Napoleon kujonierte unter der Trikolore – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – europäische Völker. Er nahm ihnen Freiheit, behandelte sie nicht als Gleiche und schon gar nicht als Brüder.
Oft stiften Flaggen Streit. Die friedliche Regenbogenflagge ist da keine Ausnahme. Schon kurz nach Faesers Flaggenreform ließ die damalige grüne Familienministerin Lisa Paus die „Progressflagge“ hissen, die nach einer Erläuterung der fachkundigen „Süddeutschen Zeitung“, auch ein „Dreieck für transsexuelle und intergeschlechtliche Personen und zwei pfeilförmige Streifen für People of Colour, also nicht-weiße Menschen“, trägt. Faeser verbat sich die Abweichung, weil ihr Schreiben nur die Normregenbogenflagge (ohne Dreieck) zuließ. Aber die Grünen sind immer noch rebellisch. Früher stellten sie das staatliche Gewaltmonopol infrage, heute immerhin noch das staatliche Flaggenerlassmonopol.

Auch die Nationalflagge war lange Zeit umstritten. Aber hier führte der Streit zu einem guten Ende. In deutschen Landen stritt man vor allem darüber, ob zum schwarzen und roten Streifen der goldene oder der weiße gehören sollte. Der weiße wurde mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation verbunden, stand also für eine Idee, die die demokratische Nationalbewegung ablehnte. Die Studenten auf dem Hambacher Fest schwenkten Fahnen mit Goldstreifen, eine schwarz-rot-goldene Flagge wehte auch über der Paulskirche. Im Kaiserreich wurde dann aber der weiße Streifen zum nationalen Band, bis die Weimarer Republik wieder den goldenen einführte. Ganze politische Philosophien trennten den weißen vom goldenen Streifen. Der Streit darüber wurde so erbittert geführt, dass er 1926 sogar einen deutschen Reichskanzler, Hans Luther, zu Fall brachte.
Adolf Hitler führte den weißen Streifen wieder ein (und stellte die Nationalfahne gleichberechtigt neben das Hakenkreuz), worauf die Mütter und Väter des Grundgesetzes bewusst wieder an Frankfurter und Weimarer Tage anknüpften, also an Demokratie und Republikidee. In Artikel 22 heißt es in einem belebend kurzen Satz: „Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold.“ Mit dieser Flagge auf dem Reichstag wehen also Deutschlands beste Werte im Wind, darunter die Gleichheit vor dem Gesetz und die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Die Teilnehmer des Christopher Street Days könnten sie auch bejubeln oder, passender noch, küssen.