Minus 70 Grad Celsius. Das ist die Temperatur, auf die der Corona-Impfstoff von Biontech für Transporte heruntergekühlt wird. Die Diskussionen über Verteilung und Aufbewahrung dieses in der Pandemie zunächst knappen Guts sind auch viereinhalb Jahre später unvergessen – sie haben erstmals einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt, wie empfindlich lebenswichtige Medikamente sein können.
Für deren Auslieferung eine ununterbrochene Kühlkette zu gewährleisten, gehört zu den Aufgaben von Patrik Tschirch. Der Geschäftsführer der LUG Aircargo Handling GmbH hat sein Frachtzentrum in der Cargo City Süd am Frankfurter Flughafen mit mehreren Kühlräumen ausgestattet. Auf dem Boden der Lagerhalle markieren blaue Streifen die Abschnitte, in denen pharmazeutische Erzeugnisse umzuschlagen sind – nur speziell geschulte Beschäftigte dürfen hier arbeiten. „Es gibt sogar Gabelstapler, die wir nur für pharmazeutische Produkte nutzen“, sagt Tschirch.
100 Grad Temperaturdifferenz
LUG ist eines von 14 Dienstleistungsunternehmen am Flughafen, die ein spezielles Zertifizierungsverfahren für Pharmalogistik durchlaufen haben – CEIV Pharma. An dem Tag im Juli, an dem Tschirch und Vertreter des Flughafenbetreibers Fraport durch die Lagerhalle führen, ist es mehr als 30 Grad heiß. Eine perfekte Gelegenheit, um zu zeigen, warum eine durchgehende Kühlung von Warentransporten keineswegs trivial ist.
Wenn ein Pharmaunternehmen oder eine Spedition die Lieferung temperatursensibler Medikamente ankündige, werde dafür eine Laderampe vorbereitet und die Abfertigung priorisiert, sagt Tschirch. Dabei helfe die Digitalisierung: LUG und andere Frachtabfertiger nutzten eine digitale Plattform, auf der Lastwagen schon vor ihrer Ankunft mit Angaben zu ihrer Ladung angemeldet würden. Umgekehrt informierten auch Flugzeug-Crews mit empfindlicher Fracht frühzeitig über ihre geplante Ankunftszeit.
Im Rhein-Main-Gebiet sind neben dem Mainzer Impfstoffhersteller Biontech weitere große Pharmaunternehmen vertreten. Sanofi beispielsweise stellt im Industriepark Höchst Insulin und andere Arzneimittel her. 16 Prozent davon seien 2024 auf dem Luftweg ausgeliefert worden, also vom Frankfurter Flughafen aus, teilt ein Sanofi-Sprecher auf Anfrage mit. Und alle auf diesem Weg transportierten Arzneimittel müssten bei kontrollierten Temperaturen befördert werden. Für die Belieferung des Werks in Höchst mit Rohstoffen sei der Flughafen dagegen von geringer Bedeutung.
100 Millionen Produkte abgefertigt
Damit am Flughafen auch nach der Zwischenlagerung der Ware in der Cargo City Süd alles glatt läuft, haben sich Frachtabfertiger, Bodenverkehrsdienstleister, Fluggesellschaften und Behörden wie der Zoll zu einem Netzwerk zusammengeschlossen, der „Cargo Community“. Dank der Koordination und gemeinsamer Investitionen in Digitalisierung gelinge der Transport pharmazeutischer Erzeugnisse in Frankfurt von der Ankunft im Frachtzentrum bis zum Flugzeug innerhalb von zwei Stunden, sagt Pierre Dominique Prümm, im Fraport-Vorstand zuständig für Infrastrukturthemen. Die Empfehlungen der IATA, des internationalen Dachverbands der Luftfahrtgesellschaften, sähen ein Zeitfenster von drei Stunden vor.
Größere Mengen an Pharmazeutika werden oft in Spezialcontainern angeliefert. Die sogenannten Envirotainer müssen im LUG-Lager nur ans Stromnetz angeschlossen werden, dann kühlen sie ihren Inhalt aktiv – allerdings kontrolliere man je nach Kundenwunsch alle 15 bis 30 Minuten, ob die Temperatur auch konstant bleibe, sagt Tschirch. Kleinere Lieferungen auf einzelnen Paletten werden in die Kühlräume geschafft, der kälteste ist an diesem Tag auf viereinhalb Grad eingestellt.
Medikamente, die bei niedrigeren Temperaturen gelagert werden müssen, würden von den Herstellern zusätzlich in Trockeneis und Styropor verpackt, erläutert Denis de Farias Duarte, der bei Fraport das Team für Cargo Development, also die Weiterentwicklung des Frachtgeschäfts, leitet. In die Verpackungen seien Sensoren integriert, die bei Temperaturabweichungen von mehr als 0,5 Grad Alarm schlügen.
Für die Weiterfahrt von der Cargo City Süd zum Flugzeug hält Fraport spezielle Kühltransporttrailer bereit. Sie werden von Frachtabfertigern wie LUG beladen und dann von Fraport oder anderen Bodenverkehrsdienstleistern wie Swissport mit Schleppern aufs Vorfeld gefahren.
Rund eine Million Pharmaprodukte werden am Frankfurter Flughafen jede Woche umgeschlagen, das entspricht laut Fraport 20 Prozent der dort insgesamt abgefertigten Güter. Der Frankfurter Flughafen sei damit europaweit der wichtigste Umschlagplatz für Medikamente, die mit dem Flugzeug transportiert würden. Fraport spricht von einem „Pharma Hub“. Für empfindliche Waren stünden am Flughafen insgesamt 22.000 Quadratmeter an Umschlagflächen mit kontrollierten Temperaturen bereit, 14.000 davon seien ausschließlich für pharmazeutische Erzeugnisse reserviert. Ein weiterer Vorteil des Frankfurter Airports sei seine zentrale Lage. Binnen 18 Stunden sei praktisch jeder Ort in Europa mit dem Lastwagen erreichbar, sagt Fraport-Vorstand Prümm.
Bezogen auf den gesamten Warenverkehr hat Frankfurt seinen früheren Spitzenplatz unter den europäischen Frachtflughäfen allerdings inzwischen an Istanbul verloren. Der Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft führt dies darauf zurück, dass in der Türkei staatliche Gebühren wie etwa die Flugsicherungsgebühr niedriger seien und dass es weniger Auflagen gebe, beispielsweise für Klimaschutz. Fraport hat sich trotzdem zum Ziel gesetzt, den Frachtverkehr am Flughafen auszubauen: Von zuletzt rund zwei Millionen Tonnen im Jahr soll die Menge der hier umgeschlagenen Güter bis 2040 auf mehr als drei Millionen Tonnen steigen.