Der Historiker Peter Brown wird 90

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Die Colleges der Universität Oxford wurden von Mönchsorden und Bischöfen gegründet. Regelmäßigkeiten, die ans klösterliche Leben angelehnt sind, gliedern trotz Umstellung auf Freiwilligkeit bis heute den Alltag, von den gemeinsamen Mahlzeiten bis zu den Gottesdiensten in der College-Kapelle. In den Formalitäten und Hierarchien des universitären Betriebs sind Liturgie und Hierarchie immer noch sehr viel prominenter als an den großen Universitäten auf dem europäischen Festland. Als Peter Brown von 1953 an Geschichte am New College in Oxford studierte, stellte er überrascht fest, dass die Religion für das Weltverständnis seiner Umwelt keine Rolle spielte. Eine Indifferenz in Glaubensfragen wurde kultiviert, die der protestantische Ire Brown, in seinem Heimatland Angehöriger einer ehemals herrschenden religiösen Minderheit, als typisch englisch empfand.

Im Oxforder Geschichtsstudium waren die Reformation und die Kirche von England vor und nach dem Bruch mit Rom zwar Pflichtstoff, aber die bischöflichen Stifter der Colleges wie William of Wykeham, der Gründer sowohl des New College als auch des Internats Winchester, wurden als Staatsmänner behandelt, nach den Prämissen eines Rationalismus, der die Studenten auf Karrieren im Staatsdienst und verwandten Professionen von Organisationsmännern vorbereitete. Die Gebäude in Oxford erzählten Brown, der selbst ein berühmtes englisches Internat besucht hatte, Shrewsbury an der Grenze zu Wales, etwas anderes. Das Erlebnis der Gotik, der sichtbaren und fasslichen Gegenwart einer frommen Vergangenheit, weckte in ihm den Wunsch, sich auf mittelalterliche Geschichte zu spezialisieren, ein Jahrhundert nach rückwärtsgewandten christlichen Erneuerungsbewegungen wie dem Oxford Movement.

Kontinuität, wie sie Theorien der Geschichtswissenschaft analytischer oder her­meneutischer Observanz als notwendigen Hintergrundgedanken historischer Erklärungen herbeikonstruieren, ist nach Browns Erfahrung eine Erfahrungstatsache. Seine 2023 publizierten, 700 Seiten dicken, bis 1987 reichenden Memoiren, die Hartmut Leppin in der F.A.Z. rezensierte, heißen „Journeys of the Mind“, aber sie handeln von einem Geist, der sich leibhaftig vom Fleck bewegt, der die historischen Landschaften gesehen haben musste, um sie sich vorstellen zu können. Vor 1979 plante er eine Geschichte des Sassanidenreiches, des vorislamischen Perserreiches, das er als Gegenwelt zum kleinräumigen römischen Imperium darstellen wollte. Das Buch blieb ungeschrieben, weil der Iran sich nach der islamischen Revolution gegen die Welt verschloss.

Unmittelbarkeit und Dauer als Grenzerfahrung

Die sinnliche Evidenz von Landschaftserlebnissen als Anreiz für Browns historisches Nachdenken blieb nach dem Zeugnis seiner Memoiren, was paradox anmuten mag, nicht auf die Lokalgeschichte beschränkt, auf den Eindruck, dass sich an einem bestimmten Ort sehr lange fast nichts geändert hat. Dass man sich die Erdgeschichte vorstellen kann wie die neoplatonischen Philosophen, als einen majestätischen, sehr lang gezogenen Prozess, in dem dessen Begreifen eine sehr späte Episode bildet, wurde ihm nicht in Griechenland oder Kleinasien plausibel (aus dem Flugzeug auf der Rückreise aus dem Iran hatte das Mittelmeer wie ein Binnengewässer ausgesehen), sondern an der Küste Kaliforniens. 1978 folgte Brown einem Ruf nach Berkeley, 1986 wechselte er nach Princeton.

Unmittelbarkeit und Dauer als Grenzerfahrungen: In Browns persönlicher historischer Methode stehen sie im Dienst der alltäglichen Arbeit der Verfremdung. Der Historiker muss die Illusion bekämpfen, es mit vertrauten Verhältnissen zu tun zu haben, die er eigentlich schon kennt. Browns Pointe ist die Überlegung, dass sich die Standardeinstellung moderner historischer Erkenntnis als irreführend erweisen kann, die Erwartung, dass sich immerzu alles verändert, die dazu verleitet, Säkularisierung und Rationalisierung für unaufhaltsam zu halten – so dass es ganz normal wirkt, wenn Filialgründungen von Klöstern Jahrhunderte später als Gehäuse für das Training von Administratoren des Auf- und Abbaus eines Weltreiches dienen.

In Metaphern sinnlicher Überwältigung beschrieb Brown die Wirkung der Entdeckung von 29 Briefen des heiligen Augustinus durch den österreichischen Philologen Johannes Divjak, die ihn zur Überarbeitung seiner Biographie des Bischofs von Hippo (1967, deutsch 1972, Neuausgabe 2000) nötigte: Die Briefe „rochen nach der Erde des römischen Afrika“, sie waren „ein reines Fragment der Vergangenheit, so frisch wie der Morgen“.

Da oben leuchten die Sterne: Mit dem Grab des heiligen Martin in der Krypta der Basilika von Tours illustriert Peter Brown den Heiligenkult der lateinischen Kirche.
Da oben leuchten die Sterne: Mit dem Grab des heiligen Martin in der Krypta der Basilika von Tours illustriert Peter Brown den Heiligenkult der lateinischen Kirche.Wikimedia Commons

In der deutschen Wissenschaft, die zur Beschreibung von Hybridphänomenen die schöpferischen Mög­lichkeiten der deutschen Wortbildung nutzen kann, war der Terminus „Spätantike“ schon geläufig, aber dass sich in der englischsprachigen Ökumene „The World of Late Antiquity“ (1971, deutsch 1980: „Welten im Aufbruch: Die Zeit der Spätantike. Von Mark Aurel bis Mohammed“) als vitales Forschungsgebiet jenseits fixer Ideen von Niedergang, Erstarrung und Epigonentum etabliert hat, geschah mit Browns Hilfe in dem emphatischen Sinne, dass er bei Kollegen in der gesamten gelehrten Welt Verehrung als wandelnder Schutzheiliger dieser universalistischen Spezialdisziplin genießt. Sein Oxforder Studienplan hatte ihn auf seine Entdeckung nicht vorbereitet: Die Klassischen Philologen vernachlässigten die nachklassischen Texte, und die „moderne Geschichte“ begann nach traditioneller Oxforder Rechnung mit Kaiser Konstantin, aber die welthistorische Übergangszeit fiel zwischen die Fächergrenzen.

Die sexuelle Befreiung der alten Welt

Browns Pionierarbeit zum „heiligen Mann“, seine Verteidigung der Säulenheiligen gegen den Spott Edward Gibbons, blieb im Grunde dem Rationalismus der Oxforder Verwaltungsgeschichte treu, durch Adaption der funktionalistischen Anthropologie von Edward Evan Evans-Pritchard, der wie Brown ein Fellow des All Souls College in Oxford war, und Mary Douglas: Bedürfnislosigkeit verschaffte dem Asketen Prestige, das ihn zum Streitschlichter prädestinierte – dieser „objektive Mensch“ übertrumpfte den viktorianischen Berufsbeamten als Verkörperung der Sachlichkeit. Browns spätere Forschungen zum westlichen Reliquienkult („The Cult of the Saints: Its Rise and Function in Latin Christianity“, 1981, deutsch 1991: „Die Heiligenverehrung. Ihre Entstehung und Funktion in der lateinischen Christenheit“) ließen mit den Stichworten der Anwesenheit der Abwesenden und der Sichtbarkeit des Unsichtbaren solche Verrechnungen hinter sich. Das Wunderbare musste der Geschichte nicht mehr ausgetrieben werden, es bleibt als Fluidum spürbar, wie der Geist der Gotik in Oxford.

Aber die effektivste Verfremdung liegt vor, wenn sich durch die Erklärung weit entfernter Bräuche eine überraschende Vertrautheit einstellt. Dieses Kunststück gelang Brown mit seinem in Berkeley konzipierten Buch über die Praxis der Jungfräulichkeit im frühen Christentum („The Body and Society: Men, Women, and Sexual Renunciation in Early Christianity“, 1988, deutsch 1991: „Die Keusch­heit der Engel: Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums“): Die Hinwendung zur Enthaltsamkeit deutete er als Abwendung von der Gesellschaft und allen ihren Erwartungen und Konventionen – als die sexuelle Befreiung der alten Welt.

Im Oxford-Teil der Memoiren beschreibt Brown einen Bildungsanstaltsbetrieb, dessen Eigenheiten man nur historisch erklären kann. Er funktionierte perfekt oder war völlig dysfunktional, je nach Perspektive, nach der Meinung über den Typus von Menschen, den eine Universität hervorbringen soll: Manager oder Gelehrte? Unterricht erhielten die Studenten von Koryphäen in Vier-Augen-Gesprächen. Aber der Zweck der aufwendigen Übung dieser sogenannten Tutorien erschöpfte sich im Training für die Abschlussprüfung. Zwar mussten sich die Kandidaten durch ausgedehntes Studium von Originalquellen auf das Examen vorbereiten, aber die beste Note erhielt, wer auf möglichst viele Fragen eine geistreiche Antwort zu geben verstand.

Den größten Platz nimmt in den Memoiren die Schilderung dessen ein, was der Verfasser Kollegen verdankt, Lehrern und Schülern, Vieraugengesprächen durch Lektüre oder von Angesicht zu Angesicht. Die Bildungsbiographie des Forschers und Professors Peter Brown besteht so gesehen aus einer Kette nachgeholter Tutorien. Auch Fachfremde werden dieses Spektakel der Generosität bewundern und vielleicht bei Brown davon gelesen haben, dass die Freigiebigkeit eine Kardinaltugend der Antike war, in heidnischer und in christlicher Zeit.

Die Schönheit der Heiligkeit: New College ist das siebtälteste College der Universität Oxford, gegründet 1379.
Die Schönheit der Heiligkeit: New College ist das siebtälteste College der Universität Oxford, gegründet 1379.Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0

Eine der schönsten Szenen des Buches ist Browns erste Begegnung mit Michel Foucault, nach einer Gastvorlesung des Franzosen in Berkeley über den Wüstenvater Johannes Cassianus und dessen Vorstellung des Seelenlebens als eines unerschöpflichen Stroms sündhafter Gedanken. Beim anschließenden Gespräch in der Studentenkneipe ist Foucault sofort die Aufmerksamkeit in Person, im Habitus wie in der Physiognomie. Das Interesse am philosophischen Lehrer als lebenspraktischem Vorbild verband Brown und Foucault, und hier wollte jeder der Schüler des anderen sein.

Als Protestant in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in der Republik Irland aufzuwachsen hieß, die Lebensmacht der Religion als Tatsache vorzufinden. Die Minderheitssituation stärkte das Verbindliche der eigenen Tradition, die Übung intensiven Bibelstudiums und das Gefühl der Verbindung mit der Kirche des Altertums. Das Konventionelle und das Idiosynkratische gehören zusammen: Diese Kippfigur bestimmt Browns Blick auf die Religion. In den Oxforder Jahren gewöhnte er sich den Kirchgang ab. Er nahm den Gottesdienstbesuch wieder auf, als er aus dem Iran zurückkehrte, wo er die Frömmigkeit der schiitischen Muslime erlebt hatte und die brennende theologische Neugier der kleinen Gemeinschaft auf weitem Feld, in der die Flamme Zoroasters am Leben gehalten wird.

Seitdem beginnen alle seine Tage mit einem Morgengebet. Am heutigen Samstag feiert Peter Brown seinen neunzigsten Geburtstag.