Brown-Ökonom im Interview: Wie steht es um den amerikanischen Traum?

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Herr Friedman, Sie forschen schon seit langer Zeit zu den Bedingungen für sozialen Aufstieg in den USA. Wie steht es um den amerikanischen Traum?

Es ist heute deutlich unwahrscheinlicher, dass Kinder den Lebensstandard ihrer Eltern übertreffen. Fast alle Kinder, die direkt nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen sind, schafften das, mehr als 90 Prozent. Während der letzten zwei Generationen ist diese Zahl auf rund 50 Prozent gesunken. Die Chance ist nun also nicht größer als ein Münzwurf.

Wie erklären Sie sich das?

Das Wirtschaftswachstum war sehr ungleich verteilt. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die sozialen Aufstiegschancen generell sehr hoch waren, stieg besonders der Lebensstandard für Menschen mit geringerem Einkommen schnell an. In den letzten 30 oder 40 Jahren hat sich das umgedreht. Ein großer Teil des Wachstums ging an Menschen an der Spitze der Einkommensverteilung. Bei den Leuten am unteren Ende stieg der Lebensstandard deutlich weniger und in vielen Fällen sogar gar nicht mehr. Für Kinder aus einkommensschwachen Familien ist es wahrscheinlicher, dass sie den Standard ihrer Eltern nicht einmal halten können.

Ist vielleicht mitunter ein Niveau erreicht, das es schwieriger macht, die eigenen Eltern zu übertreffen?

Ich denke nicht, dass das Niveau der entscheidende Faktor ist. Es geht um das Wachstum. Aber auf eine gewisse Weise ist es deshalb noch rätselhafter, dass wir in den USA so wenig soziale Mobilität beobachten. In den letzten 30 bis 40 Jahren sind die Vereinigten Staaten deutlich schneller gewachsen als nahezu alle europäischen Volkswirtschaften. Man würde doch annehmen, wenn ein Land in so einer Geschwindigkeit reicher wird, muss es im Umkehrschluss auch wahrscheinlicher werden, dass die Leute einmal mehr verdienen als ihre Eltern. Aber das ist nicht der Fall.

Was macht das mit einer Gesellschaft?

Das führt zu einer sehr schwierigen sozialen und politischen Gemengelage, in der sich manche Menschen festgefahren und chancenlos fühlen, während sie sehen, dass andere enorme Gewinne erzielen.

Wurde Donald Trump gewählt, weil die Menschen das Gefühl erleben, dass sie keine echten Aufstiegschancen mehr haben?

Wir haben tatsächlich eine größere Unterstützung für Donald Trump in Gegenden beobachtet, in denen der ökonomische Aufstieg der Leute abnimmt. Aber es geht auch um etwas sehr Grundsätzliches, das über diese konkrete Wahl hinausgeht: Wenn die Menschen das Gefühl erleben, dass weder sie noch ihre Kinder eine richtige Chance haben, dann lehnen sie das ganze System ab. Sie beginnen, nach Lösungen zu suchen, die außerhalb des traditionellen Spektrums liegen. Populistische Meinungen und eine Nullsummenmentalität – also der Glaube, dass eine Gruppe nur auf Kosten einer anderen wachsen kann – sind in Gebieten mit geringer Aufstiegsmobilität stärker ausgeprägt.

Es geht also gar nicht so sehr darum, ob sich jemand als konservativ oder progressiv versteht.

Ja. Wenn die Leute sagen: Wir haben es mit den Linken versucht, wir haben es mit den Rechten versucht, trotzdem habe ich persönlich keine Chance auf ein besseres Leben. Dann sind sie eher bereit, etwas zu versuchen, das viel extremer ist. So übersetzt sich Aufstiegsmobilität in politische Ansichten.

John Friedman
John FriedmanBethany O Photography

Hat Trump einfach die richtige Ansprache gefunden für Menschen, die sich übersehen fühlen?

Ein Teil der Anziehungskraft von Trump besteht sicherlich darin, dass er den Verlust von sozialer Mobilität zwischen Generationen sehr offensiv angesprochen hat. Es geht nicht nur um Menschen, die entlassen wurden und sich zurückgelassen fühlen. Er hat erkannt, dass eine Gemeinschaft ihren Stolz verliert, wenn die Beschäftigungsquoten sinken und die Menschen keine Arbeit haben. Ich denke, das ist ein Teil seines politischen Erfolges. Aber ich würde vermuten, dass viele der Maßnahmen, die die Regierung erlassen hat oder vorschlägt, nicht gerade dazu beitragen werden, die soziale Mobilität zu erhöhen.

Sie haben vor Jahren eine Karte erstellt, die zeigt, dass der Wohnort stark über die Aufstiegschancen entscheidet.

Man sieht sehr große Unterschiede zwischen durchschnittlichen Lebenswegen von Kindern, die zwar in einer vergleichbaren Familie aufwachsen, aber in verschiedenen Städten des Landes leben. Die Unterschiede sieht man sogar in verschiedenen Vierteln innerhalb einer bestimmten Stadt.

Was macht den Unterschied?

Auch da gibt es natürlich viele Faktoren, aber ich denke, das soziale Umfeld, in dem ein Kind aufwächst, ist vielleicht der wichtigste Punkt. Es wird zwar von der eigenen Familie geprägt, aber eben auch von den anderen Kindern, den anderen Familien in der Nachbarschaft, mit denen es interagiert. Das ist eine mächtige Kraft, denn sie formt die Vorstellungen der Kinder, was sie für möglich halten in ihrem Leben. Und sie prägt ihr Verhalten.

Es geht also nicht nur ums Geld.

Ich glaube nicht, dass Unterschiede beim Einkommen an sich die sehr großen Un­terschiede in den Lebenswegen der Kinder erklären können, die wir zwischen armen und reichen Familien sehen. Stellen Sie sich eine Familie vor mit niedrigem Einkommen und allem, was dazugehört . . .

. . . Eltern, die wesentlich häufiger nicht berufstätig sind, wesentlich häufiger keinen hohen Bildungsstand haben, . . .

Jetzt geben Sie ihnen einfach eine Million Dollar oder 20.000 Dollar pro Jahr, um ihr Einkommen zu erhöhen. Ich prophezeie Ihnen, dass dieses Kind nicht annähernd so große Erfolge vorweisen wird, als wenn es einfach in einer Familie mit einem viel höheren Einkommen aufgewachsen wäre. Dazu gibt es gute Studien. Was würde passieren? Das Essen wäre vielleicht besser, vielleicht würden sie in einem größeren Haus wohnen. Aber trotzdem würden die Eltern vermutlich nicht aufpassen, ob ihr Kind die Hausaufgaben macht, wenn sie das nicht schon vorher getan haben. Das ist die Art von Unterschieden, auf die es letztlich ankommt. Die Kinder erhalten unterschiedliche Informationen über die Welt und bilden andere Erwartungen aus.

Wie müsste eine gute Politik an die Thematik herangehen?

Es ist nicht generell eine schlechte Idee, einkommensschwachen Familien mehr Mittel zur Verfügung zu stellen. Einige Zusammenhänge, die für die soziale Mobilität entscheidend sind, können Sie so aber nicht beeinflussen. Es braucht ein breiter angelegtes Bündel von Maßnahmen. Ich spreche von besser integrierten Nachbarschaften, besser integrierten Schulen und mehr Unterstützung in der Schule für Schüler, die aus einkommensschwachen oder benachteiligten Familien stammen. Aber natürlich sind das Dinge, die schwieriger zu implementieren sind.

Ab welchem Lebensabschnitt ist klar, wo die Reise hingeht?

Ich denke, der gesamte Erziehungsprozess eines Kindes bis ins junge Erwach­sen­enalter – sagen wir bis zum Alter von 25 Jahren – ist sehr wichtig. Jedes Jahr bietet die Möglichkeit, den Weg eines Kindes in Richtung sozialen Aufstieg zu lenken oder eben nicht. Es ist die Summe all der Jahre auf diesem Weg, die die Möglichkeiten bestimmt, und nicht das, was in einem bestimmten Moment passiert. Deshalb ist es wichtig, die Politik auf Kinder und junge Erwachsene in allen Altersstufen auszurichten und sich beispielsweise nicht nur auf Kinder unter fünf Jahren zu fokus­sieren.

Sie arbeiten an der sehr prestigeträchtigen Brown Universität, einem Ivy League College. Auch hierzulande wird debattiert, ob wir ein deutsches Harvard brauchen. Ist es nicht problematisch, dass die Eliten so unter sich bleiben?

Der Effekt, den ein Studium in Harvard hat, ist enorm. Sie können sich die Wahrscheinlichkeiten anschauen, dass ein Student Entscheider in der Wirtschaft, der Politik oder im sozialen Bereich wird. Das gilt sogar im Vergleich zur University of California in Berkeley oder der University of Michigan. Manche würden argumentieren, dass das Fehlen von solchen Einrichtungen einer der Gründe ist, warum es in Europa weniger wirklich innovative Unternehmen gibt, wie beispielsweise Google. Die Frage ist: Führt ein solcher Ort zu Ergebnissen, die nicht möglich sind, wenn man die kleine Anzahl von Spitzenstudenten auf eine große Anzahl von Universi­täten verteilt? Wir kennen die Antwort nicht. Aber das ist zunehmend von politischem Interesse, nicht nur in Deutschland. Die US-Regierung greift diese Eliteuniversitäten im Moment massiv an.

Das stimmt. Aber aus anderen Gründen, meinen Sie nicht?

Wer weiß schon, was die Gründe dafür sind? Aber ich denke, in dem Zusammenhang ist die deutsche Geschichte lehrreich. Vor hundert Jahren hatte Deutschland wahrscheinlich die besten Universitäten der Welt. Natürlich ist klar, dass sie aus anderen Gründen zerstört wurden, aber es zeigt doch eines: Wenn man eine solche Struktur einmal kaputt gemacht hat, dann ist sie weg, und es ist sehr, sehr schwierig, so etwas wieder aufzubauen. Im Moment ist Harvard ein gutes Beispiel dafür. Die Regierung tut im Grunde alles, was in ih­rer Macht steht, um Harvard zu zerstören. Eine Universität, die in der Welt praktisch einmalig ist.

Zur Person

John Friedman ist Professor für Wirtschaftswissenschaften und In­ternational and Public Affairs an der renommierten Brown Universität. Dort forscht und lehrt er zu Ungleichheit, Armut und sozialer Mobilität. In Barack Obamas zweiter Amtszeit war Friedman Teil des National Economic Council, einem wirtschaftspoli­tischen Gremium, das den US-Präsidenten berät. Seine Arbeiten wurden in führenden Fachpublikationen veröffentlicht und mitunter auch medial rezipiert, zum Beispiel in der „New York Times“.