Für ihren Vorstoß, die Lebensarbeitszeit zu erhöhen, um die Kosten des demographischen Wandels aufzufangen, kommt der CDU-Wirtschaftsministerin Katherina Reiche weiterhin viel Kritik entgegen, vor allem von der politisch linken Seite. Zuspruch erhält sie zwar von Arbeitgebern, aber auch aus ihrer Partei fehlt bisher prominente Unterstützung. Vizeregierungssprecher Sebastian Hille antwortete am Montag ausweichend auf die Frage, ob Reiches Forderung im Interview mit der F.A.Z. in der Regierung abgestimmt worden oder eine Einzelmeinung sei.
Er betonte aber, das Renteneintrittsalter werde nicht erhöht, der Koalitionsvertrag gelte. Der Fraktionsvorsitzende der Union, Jens Spahn, wollte sich am Montag zu Reiches Vorschlag nicht äußern.
Seit Müntefering hat sich niemand getraut
Kritik kam vom Sozialverband VdK sowie von Yasmin Fahimi, der Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB): „Die fortdauernden Angriffe auf die Rente sind ein Angriff auf die Lebensleistungen der Beschäftigten und gehen an den Lebensrealitäten der Menschen vollkommen vorbei. Statt den zukünftigen Rentnern mit Leistungskürzungen zu drohen, müssen endlich mehr Einzahler in die Deutsche Rentenversicherung gesichert werden“, sagte sie der F.A.Z. Demographie sei nicht alleinige Aufgabe der Beitragszahler, daher seien höhere Steuerzuschüsse gerechtfertigt.
Sie erwarte von der Regierung konstruktive Lösungsvorschläge für die Probleme, „nicht das Schlechtreden der Lebensleistung und unseres Sozialstaats“. Die Koalition sollte Selbständige zu Pflichtversicherten machen und junge Menschen nachhaltiger in den Arbeitsmarkt integrieren, sagte Fahimi. Arbeitgebern riet sie, die Wirtschaft durch Innovation und Digitalisierung produktiver zu machen: „Dazu braucht es endlich mehr Investitionen und nicht längeres Arbeiten.“
Wie Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger lobten auch die Familienunternehmer sowie der Hauptgeschäftsführer von Gesamtmetall, Oliver Zander, Reiches Vorstoß. Die Wucht der Demographie sei unerbittlich. Zander wies darauf hin, dass schon heute 134 Milliarden Euro an Steuern als Zuschuss in die Rente flössen, mehr als ein Viertel des Bundesetats. Zwar gebe es „keine einfache und schnelle Lösung der Rentenproblematik“.
Umso mutiger sei der Schritt der Wirtschaftsministerin. Seit Franz Müntefering (SPD) habe sich kein Amtsträger mehr getraut, dem Wähler die Wahrheit zuzumuten. Jahrzehntelang sei abgewiegelt und die Lage mit Frühverrentungsprogrammen verschlimmert worden. „Frau Reiche ist hoch anzurechnen, dass sie sich nicht wegduckt, sondern die überfällige gesellschaftliche Debatte anstößt“, sagte Zander.