Die Suezkrise des Jahres 1956 zählt zu den wichtigsten geopolitischen Ereignissen der frühen Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie kann auch als ein lehrreiches Ereignis für den Einsatz wirtschaftlicher Mittel zur Lösung eines politischen und militärischen Konflikts betrachtet werden. Nachdem der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser die bis dahin mehrheitlich von britischen und französischen Eigentümern kontrollierte Betreibergesellschaft des Suezkanals verstaatlicht hatte, entschlossen sich Großbritannien und Frankreich zusammen mit Israel, im Herbst 1956 gegen Ägypten militärisch vorzugehen. Zu den Gegnern einer Eskalation zählten die Vereinigten Staaten, die enge Beziehungen des Westens zu Nasser anstrebten, um eine Annäherung Ägyptens an die Sowjetunion zu verhindern.
Großbritannien und Frankreich ließen sich durch den amerikanischen Widerstand nicht beeindrucken und schlugen am 31. Oktober 1956 los. Trotz militärischer Anfangserfolge ließen sich London und Paris als Folge internationalen Drucks jedoch schon eine Woche später auf einen Waffenstillstand ein. So hatten die Vereinigten Staaten gegenüber dem NATO-Partner Großbritannien unverhohlen angedroht, den Wert des Britischen Pfundes auszuhöhlen.
Schon vor dem Kriegsausbruch musste die Bank of England mit umfangreichen Stützungskäufen den Wechselkurs des Pfunds stabilisieren, um eine offizielle Abwertung der britischen Währung im Festkurssystem von Bretton Woods zu verhindern. In London kursierte die Furcht, eine offizielle Abwertung könnte die ohnehin nur noch fragile Weltmachtstellung Großbritanniens weiter unterminieren und die Zentrifugalkräfte innerhalb des Commonwealth verstärken.
Der Zusammenhang von Wirtschafts- und Geopolitik
Die Mittel, um ihre Drohung umzusetzen, besaßen die Vereinigten Staaten. Als wichtigster Anteilseigner des Internationalen Währungsfonds konnten sie ein Hilfsprogramm des Fonds blockieren; zudem verfügten sie über umfangreiche Bestände britischer Anleihen, die sie auf den Markt werfen konnten. Die amerikanische Drohung war nicht der einzige, aber ein wichtiger Grund, der Großbritannien (und damit auch Frankreich) zu einem Waffenstillstand zwang, der international als Debakel für die europäischen Mächte wahrgenommen wurde. In Washington reagierte Präsident Dwight D. Eisenhower auf die Suezkrise mit der Gründung der Commission of Foreign Economic Policy, die sich systematisch mit dem Zusammenhang von Wirtschafts- und Geopolitik befassen sollte.
Dieser Zusammenhang ist unter der Bezeichnung Geoökonomie seit der offenkundigen Rückkehr der Rivalität großer Mächte ein Trendthema für Ökonomen und Politikwissenschaftler geworden. Der Einsatz wirtschaftspolitischer Instrumente für geopolitische Zwecke widerspricht zunächst traditionellem deutschen ordnungspolitischen Denken, dessen Väter das Prinzip eines Ordnungsrahmens für offene Märkte vom Nationalstaat auf eine regelbasierte Weltwirtschaft übertrugen.
Geoökonomisches Denken ist eine Reaktion auf die offensichtliche Beschädigung einer regelbasierten weltwirtschaftlichen Ordnung durch eine Rivalität großer Mächte, die wirtschaftspolitische Mittel für geopolitische Zwecke einsetzen. „Während der Außenhandel ökonomische Vorteile durch Tausch erzeugt, geht er mit geopolitischen Kosten einher, indem Handelspartner Abhängigkeiten nutzen können, um politischen Einfluss auszuüben“, schreiben die Ökonomen Ernest Liu und David Y. Yang in einer aktuellen Arbeit („International Power“). Diesen Wechselwirkungen verdankt die Geoökonomie ihre Existenzberechtigung; ordnungspolitische Überlegungen bleiben für die kritische Prüfung des Einsatzes wirtschaftspolitischer Instrumente für geopolitische Zwecke essenziell.
Der Schaden wirtschaftspolitischer Eingriffe in den Handel
Die Gültigkeit von David Ricardos Theorem von der wirtschaftlichen Vorteilhaftigkeit internationalen Handels für alle Beteiligten unterstellt, wird jeder wirtschaftspolitische Eingriff in den Handel wirtschaftlichen Schaden anrichten, so begründet er aus geo- oder sicherheitspolitischen Gründen sein mag. Und so wie ein staatlicher Eingriff in einen heimischen Markt über weitere Eingriffe eine inländische Interventionsspirale zur Folge haben kann, sind nach einem geoökonomisch motivierten Staatseingriff internationale Interventionsspiralen möglich. Desaströse Eskalationen der Zollpolitik und Abwertungswettläufe in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen dienen noch nach nahezu einem Jahrhundert als eindringliche Mahnung.
Da die Rivalität großer Mächte über Jahrhunderte die Weltgeschichte geprägt hatte, beschäftigten sich auch schon früher Denker mit dem Zusammenhang von Wirtschafts- und Geopolitik, der nach dem nach 1989 ausgerufenen, vermeintlichen „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) vorübergehend in Vergessenheit geraten war.
Als ein Pionierwerk wird heute Albert Hirschmans im Zweiten Weltkrieg verfasstes, damals kaum gelesenes Buch „National Power and the Structure of Foreign Trade“ gelobt, obgleich Vorläufer existieren, mit denen sich der aus Deutschland stammende Ökonom auszugsweise befasst. In einer von Großmachtkonflikten geprägten Welt erkennt Hirschman wie David Ricardo wirtschaftlichen Wohlstand als materielle Voraussetzung für eine glaubwürdige militärische Abschreckung, aber wie Adam Smith bezeichnet er reiche Länder gleichzeitig als attraktive Ziele für aggressive Feinde, die dort ernten wollen, wo sie nicht gesät haben.
Wirtschaftliche anstelle von militärischen Mitteln
Hirschmans Buch enthält moderne Konzepte. Anders als viele liberale Denker seit dem 18. Jahrhundert vertraut er nicht auf eine generelle, Frieden schaffende Wirkung des Außenhandels wegen der Möglichkeit einer aus dem Handel stammenden asymmetrischen Machtposition: Kleine Länder können in Abhängigkeit von großen Ländern geraten, Rohstoffimporteure in Abhängigkeit von wichtigen Rohstofflieferanten. Hirschman untersucht die Potentiale einer Diversifizierung von Ausfuhr und Einfuhr, er prüft einen bevorzugten Handel mit geographisch („Near-Shoring“) oder politisch („Friend-Shoring“) nahestehenden Handelspartnern, und er beschäftigt sich mit der Wirkung wirtschaftspolitischer Instrumente wie Sanktionen oder Blockaden als Alternative zur militärischen Konfrontation.
Vom Zusammenbruch der internationalen Kooperation seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs desillusioniert, vertraut der junge Hirschman nicht mehr auf ein gedeihliches Miteinander der Staaten. Daher fordert er einen „Frontalangriff“ auf die Institution, „die die Grundlage für die mögliche Nutzung internationaler Wirtschaftsbeziehungen für nationale Machtziele bildet – die Institution der nationalen wirtschaftlichen Souveränität“. Den Ersatz nationaler Macht durch eine supranationale Institution konnten die 1945 gegründeten Vereinten Nationen allerdings nicht leisten.
Neben der Unbrauchbarkeit seines Lösungsvorschlags stand einer günstigen Aufnahme des Buches später auch Hirschmans Ruf eines Paradiesvogels entgegen, der zwar an namhaften Universitäten lehrte, aber mit seinen Arbeiten damalige Grenzen zwischen den Wirtschafts- und den Politikwissenschaften überschritt. Danach befasste sich unter anderem der amerikanische Wirtschaftshistoriker Charles Kindleberger gelegentlich mit geoökonomischen Themen, aber als Monographie sorgte erst das 1985 erschienene Werk „Economic Statecraft“ des amerikanischen Politikwissenschaftlers David A. Baldwin für Aufmerksamkeit.
Damals war die Welt noch durch den Systemwettstreit zwischen West und Ost mit den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion als führenden Mächten geprägt. Angesichts der gewaltigen Nuklearwaffenbestände der beiden Supermächte erschien es angezeigt, Möglichkeiten einer Konfliktführung mit wirtschaftlichen anstelle von militärischen Mitteln zu prüfen; zudem hatte das arabische Ölembargo von 1973 das Interesse an geoökonomischen Themen belebt.
„Jeder Fall und jede Krise ist anders“
Baldwins breit angelegte, historisch fundierte Untersuchung wendet sich gegen die seinerzeit verbreitete Vorstellung, wirtschaftspolitische Instrumente eigneten sich nicht zur Realisierung geopolitischer Ziele. „Meine These lautet, dass die Nützlichkeit wirtschaftspolitischer Mittel von den meisten Analysten nach 1945 systematisch unterschätzt worden ist“, schreibt Baldwin. „Die Untersuchung wirtschaftspolitischer Instrumente für die Außenpolitik wurde im Vergleich zur Untersuchung anderer politischer Instrumente unterschätzt.“
Wenige Jahre nach dem Erscheinen des Buches wurden geoökonomische Untersuchungen mit dem Ende des Systemkonflikts zwischen Ost und West als aus der Zeit gefallen betrachtet. Mit der zunehmenden Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China ab etwa 2010 kehrte das Interesse langsam zurück. Das im Jahr 2016 veröffentlichte Buch „War by Other Means“, geschrieben von dem amerikanischen Diplomaten Robert D. Blackwill und der Ökonomin Jennifer M. Harris, konstatiert im ersten Satz: „Obgleich die Vereinigten Staaten die mächtigste Wirtschaft der Welt haben, greifen sie in ihrem internationalen Handeln zu häufig zum Gewehr anstatt zur Brieftasche.“
Die Autoren halten die Geoökonomie für ein mächtiges Analyseinstrument, aber sie warnen vor der Illusion von Blaupausen. „Jeder Fall und jede Krise ist anders, und es ist im Vorhinein unmöglich zu sagen, ob geoökonomische Ansätze in einem bestimmten Szenario taugen.“ Diese Feststellung warnt vor einem zu optimistischen Instrumenteneinsatz ohne sorgfältige Prüfung.
Die Geoökonomie hat als Spezialgebiet durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, aber auch durch den Wahlsieg Donald Trumps einen erheblichen Schub erfahren. So veranstalten das Kieler Institut für Weltwirtschaft und das Londoner Center for Economic Policy Research jährlich eine viel beachtete Konferenz. Den aktuellen Forschungsstand fasst ein von Catrin Mohr und Christoph Trebesch geschriebener Aufsatz („Geoeconomics“) zusammen. Ein nicht geringer Teil der Forschung ist empirisch angelegt.
Ein häufig bearbeitetes Thema bildet die Wirksamkeit von Sanktionen, über die zuletzt eine vom Kieler Institut herausgegebene Studie von Martin Bernstein, Josefin Meyer, Kevin O’Rourke und Moritz Schularick („Economic Insecurity: Trade Dependencies and their Weaponization in History“) informiert. Sie betrachten seit dem Jahr 1870 erhobene Wirtschaftssanktionen und bestätigen anhand des reichen Datenmaterials einen bekannten allgemeinen Befund: Sanktionen erweisen sich nicht als eine mächtige Waffe, solange sie nicht mit erheblichem Einsatz betrieben werden. Import- oder Exportsubventionen von einem Prozent der Wirtschaftsleistung führen zu einem durchschnittlichen Verlust von 0,3 Prozent der Wirtschaftsleistung über einen Zeitraum von fünf Jahren und einem Anstieg der Arbeitslosenquote um 0,1 Prozentpunkte. Das klingt nicht beeindruckend.
Wann Sanktionen große Wirkung zeigen können
Trotz dieses generellen Befunds können Sanktionen in speziellen Situationen dann große Wirkung zeigen, wenn die sanktionierten Länder zumindest kurzfristig nicht über Ausweichstrategien verfügen. Mit Blick auf die Auto- und Autozulieferindustrie sind Kanada und Mexiko stark vom Markt der Vereinigten Staaten abhängig. Als ein anderes Beispiel für diese schon von Hirschman thematisierte Asymmetrie von Wirtschaftsbeziehungen kann die Anfälligkeit von Finanzzentren für die Finanzsanktionen angeführt werden.
Einen interessanten Versuch, die Wirkung geoökonomischer Entscheidungen von Regierungen auf Unternehmen zu messen, unternehmen Christopher Clayton, Antonio Coppola, Mateo Maggiori und Jesse Schreger in einer Arbeit („Geoeconomic Pressure“), die sich auf die Analyse von Äußerungen von Unternehmensvertretern und Finanzanalysten durch Künstliche Intelligenz stützt. Die Arbeit wirft einen Blick auf unterschiedliche Instrumente, da die Vereinigten Staaten und China in ihrem bilateralen Verhältnis stark auf scharfe Import- oder Exportkontrollen in wenigen ausgewählten Wirtschaftsbereichen setzen.
Sanktionen werden neben den Vereinigten Staaten vor allem von anderen westlichen Ländern in Europa, aber auch von Japan und Australien überwiegend gegen drei auf dem eurasischen Kontinent liegende autokratische Staaten eingesetzt: Russland, China und Iran. Auch manche Sanktionen wirkten zumindest anfangs asymmetrisch: Für die meisten europäischen Unternehmen waren zunächst die Folgen des Ausfalls russischer Lieferungen von Öl und Gas ein größerer Grund für Besorgnis als der Wegfall Russlands als Exportmarkt für eigene Produkte. „Russland war für viele Unternehmen kein bedeutender Exportmarkt“, schreiben die Autoren.
„Zölle unterscheiden sich deutlich von den anderen Instrumenten“, halten sie fest, denn die Vereinigten Staaten verfolgen seit Trumps legendärem Auftritt im Rosengarten des Weißen Hauses das Ziel, nahezu die gesamte Welt mit Zöllen für eine große Zahl von Produkten zu überziehen. Trump versucht damit unter anderem eine Ausweichstrategie chinesischer Unternehmen auf Zölle in seiner ersten Amtszeit zu konterkarieren. Damals lenkten die Chinesen ihre Handelsströme um, indem sie ihre Güter über andere asiatische Staaten, aber auch über Mexiko in die Vereinigten Staaten exportierten. Die Geoökonomie bleibt ein faszinierendes Forschungsgebiet in einer Welt, der es an Ordnung fehlt.