Johann Wadephul betet in den Ruinen der byzantinischen Georgskirche. Der deutsche Außenminister ist in Taybeh im Westjordanland. Es ist ein christliches Dorf, neben ihm beten Priester. Wadephul ist am Freitag nach Taybeh gereist, weil es seit Wochen immer wieder von israelischen Siedlern angegriffen worden ist. Auch in den Ruinen der Kirche und davor wurde Feuer gelegt. „Helfen Sie uns“, sagt einer der Priester zu Wadephul und berichtet, wie sie fast jeden Tag attackiert würden. Als der Minister sich vor die Mikrofone stellt, verurteilt er die Siedlergewalt und sagt: „Israel muss als Besatzungsmacht, als Rechtsstaat Sicherheit und Ordnung durchsetzen und Straftaten verfolgen.“ Es müsse die palästinensische Bevölkerung vor diesen Straftätern schützen.
Die Gewalt der israelischen Siedler und der Umgang Israels mit dem Westjordanland sind nur ein weiteres Thema, das in Berlin zunehmend für Unverständnis sorgt – neben dem, das ohnehin immer mehr Länder in der Welt umtreibt und von Israel entfernt: die humanitäre Not in Gaza. Wadephul will auf seiner Reise aber nicht nur davor warnen, dass sich Israel weiter isoliert. Er hat auch einen Auftrag aus Berlin.
Am Montag hatte das Sicherheitskabinett entschieden, dass er nach Israel reisen und Eindrücke sammeln solle, wie gedacht werde in der israelischen Regierung. Eine Fact-Finding-Mission. Zurück in Berlin soll Wadephul dem Sicherheitskabinett vortragen. Und dann soll es in dieser Runde wieder darum gehen, was Deutschland tun kann, was Deutschland tun muss. Die Vorstellungen in den Reihen der Koalitionspartner drohen dabei immer weiter auseinanderzugehen.

In den vorigen Wochen, in denen die humanitäre Lage im Gazastreifen sich weiter zugespitzt hat, ist auch der Druck auf die Bundesregierung größer geworden, ihren Kurs gegenüber Israel anzupassen. Er kommt nicht nur von internationalen Partnern oder der Opposition und Zivilgesellschaft. Auch in der Koalition steigt der Druck, und so müssen Kanzler Friedrich Merz und sein Vize Lars Klingbeil unter Zeitdruck die Frage beantworten, was das jetzt praktisch bedeutet: Staatsräson? Denn dass die Sicherheit Israels Staatsräson für Deutschland sei, wie es Angela Merkel 2008 in der Knesset verkündet hatte, steht auch in dem Koalitionsvertrag, den Union und SPD im Frühjahr unterzeichnet haben.
Als Wadephul am Donnerstagabend im King David Hotel in Jerusalem spricht, erwähnt er den Begriff nicht. In den wenigen Stunden seit seiner Landung hat er da schon den israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu, Präsidenten Herzog und Außenminister Saar gesprochen.
Nach dem Gespräch mit Saar gibt es keine gemeinsame Pressekonferenz, dafür verbreitet die israelische Seite eine ausführliche Zusammenfassung des Gesagten. Demnach hat Wadephul eine historische Ausführung bekommen, warum die Israelis gar nicht von einem Westjordanland sprächen, dass es historisch noch nie einen palästinensischen Staat gegeben habe und warum es ihn auch nicht geben werde. Wadephul hatte vor seinem Abflug die Zweistaatenlösung hingegen wieder als Ziel benannt. „Ich habe unser Gespräch nicht so verstanden, dass es eine definitive Verweigerung der israelischen Seite gibt“, sagt Wadephul. Es gebe eine große Skepsis.
„Untragbarer Zustand“
Der deutsche Außenminister verfolgt die bekannte Linie, etwas härter formuliert. Er kritisiert Israel wegen der humanitären Not im Gazastreifen: „Das ist ein vollkommen untragbarer Zustand, der sich sofort ändern muss“. Eine „fundamentale Verbesserung für die Menschen im Gazastreifen“ sei nötig. Er fordert einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln. Und er warnt Israel vor der internationalen Isolation, verweist auf die Diskussionen in der Europäischen Union über Sanktionen und all die Staaten, die bereit sind, einen palästinensischen Staat anzuerkennen.
Aus deutscher Sicht kommt eine Anerkennung erst als einer der letzten Schritte hin zu einer Zweistaatenlösung infrage, macht er auch klar. „Ich bin mit dem Ziel hierhergekommen, zu verhindern, dass sich eine Kluft zwischen der Europäischen Union und Israel auftut“, sagt Wadephul. „Hier und heute war es mein Auftrag, der israelischen Seite zu sagen, dass sie jetzt handeln muss und nicht erst irgendwann.“ Über eine Kluft, die sich in der Koalition in Berlin abzeichnet, sagt er nichts.
Für einen CDU-Kanzler ist Israel das heikelste außen- und innenpolitisch tief ineinander verwobene Thema von allen. Als Oppositionsführer hat Friedrich Merz seinen sozialdemokratischen Vorgänger Olaf Scholz noch vor sich hergetrieben, warf ihm nach dem Überfall der Hamas vor, Israel Waffenlieferungen zu verweigern, was Scholz bestritt. Nach dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 forderte Merz, nur diejenigen sollten die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen, die sich zum Existenzrecht Israels bekennten.
Für Merz wird es schwieriger
Zwar berichtet Merz heute gern, dass er auf seinen zwei Reisen nach Israel in den zurückliegenden zwei Jahren Netanjahu hinter verschlossener Tür gesagt habe, er möge es nicht übertreiben. Das zielte auf Gaza und die israelische Siedlungspolitik, auch das Eintreten mancher israelischer Regierungsmitglieder für Annexionen im Westjordanland. Aber für das Publikum sichtbar nahm der CDU-Vorsitzende den israelischen Ministerpräsidenten auffallend in Schutz. Noch nach der Bundestagswahl beteuerte Merz, sollte Netanjahu trotz des gegen ihn vom Internationalen Strafgerichtshof verhängten Haftbefehls nach Deutschland kommen, würde er nicht verhaftet.

Mit der Zuspitzung der Lage in Gaza wird es für Merz immer schwerer, Israels Politik zu verteidigen. Das deutsche Publikum erwartete deutlichere Kritik. Öffentlich leitete Merz eine Wende Ende Mai beim Auftritt in einer Veranstaltung des WDR ein. Es waren nur ein paar Sätze zum Ende eines Interviews, aber die sorgten für Aufmerksamkeit. „Das, was die israelische Armee jetzt im Gazastreifen macht: Ich verstehe offen gestanden nicht mehr, mit welchem Ziel.“ Die Zivilbevölkerung „derart in Mitleidenschaft zu nehmen“, wie das in jüngster Zeit immer wieder der Fall gewesen sei, „lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen“, sagte Merz. Am Beifall des Publikums im Saal mochte er gemerkt haben, dass viele eine solche Aussage von ihm erwarteten.
In Europa treibt die besondere Treue zu Israel Berlin immer mehr in die Isolation. Und im Inland rücken die bisher vor allem in der politischen Linken beheimatete Israelkritik und klare Unterstützung der Palästinenser immer mehr ins Lager der CDU-Wähler vor. Hinzu kommen öffentlichkeitswirksame Aufrufe von Künstlern oder Nichtregierungsorganisationen, deutlichere Kritik an Israel zu üben. In der eigenen Partei stößt das jedoch vielfach auf Widerstand. Kürzlich soll Wirtschaftsministerin Katherina Reiche in einer kleinen Runde appelliert haben, man müsse enger an der Seite Israels stehen. Und die CSU setzt Merz ohnehin unter Druck, nicht nachzulassen mit der Solidarität gegenüber Israel. Jemand aus dem Merz-Lager spricht in diesen Tagen von der Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten.
Unter diese Überschrift gehört bisher auch das Thema Sanktionen. Man sieht im Kanzleramt, dass die gelegentlich erwähnten Einschränkungen in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit nicht viel bringen würden. An größere Schritte wie eine Einschränkung des Handels mit Israel denkt Merz derzeit nicht.
Der Ton ist rauer
Das Klima zwischen dem Kanzler und dem israelischen Ministerpräsidenten ist kühler geworden, ist in Berlin zu erfahren, der Ton am Telefon rauer. Merz ärgert es, dass Netanjahu ihn vor Gesprächen bisweilen warten lässt und dann etwas in Aussicht stellt, was er letztlich nicht einlöst. Der Kanzler fühle sich von Netanjahu manchmal nicht ernst genommen, sagt jemand in Berlin.
Die SPD blickt aus verschiedenen Perspektiven auf die Situation im Nahen Osten – was in der Vergangenheit schon für einige Verwunderung sorgte. Als staatstragende Partei steht die SPD natürlich zum Existenzrechts Israels und auch zum Recht der Selbstverteidigung der Israelis. Gleichzeitig gibt es, gerade unter jungen Sozialdemokraten, viele, die die politischen Vorgänge in den Palästinensergebieten unter dem Motto des Widerstands und der Selbstermächtigung sehen. Das ist nicht unbedingt gegen Israel gerichtet, zeigt aber manchmal erstaunliches Verständnis für die Gegenseite. So kam es, dass die Jusos einst mit der Fatah-Jugend zusammenarbeiteten. Nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 beendete die SPD-Organisation die Zusammenarbeit.
Im März 2024 hielt SPD-Chef Lars Klingbeil eine Rede über eine neue „Nord-Süd-Politik“. Darin ging es um die Anerkennung für die Sichtweisen der Staaten des globalen Südens. Klingbeil fasste damals, vor mehr als einem Jahr schon, in Worte, was inzwischen ein Großteil seiner Partei denken dürfte: „Israel hat ein Recht auf Selbstverteidigung. Das geht mit der Verantwortung einher, selbst das Völkerrecht zu achten und die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes in Gaza sicherzustellen.“ Daran gebe es „erhebliche Zweifel“. Jetzt, unter Merz, werden echte Konsequenzen gefordert, die Israel wehtun könnten, vielleicht auch sollen. Und es ist Klingbeils Aufgabe, diese Forderungen in Richtung des Kanzlers zu kanalisieren.
Die SPD verschärfte stufenweise den Ton. Auf ihrem Parteitag Ende Juni verständigte sie sich auf einen Beschluss zu Gaza und rief Israel zur Einhaltung des Völkerrechts auf. Aus Deutschland gelieferte Rüstungsgüter dürften nicht für „völkerrechtswidrige Militäraktionen“ eingesetzt werden. Eine generelle Aussetzung aller Waffenlieferungen an Israel forderte die SPD aber nicht.
Die SPD denkt über die Anerkennung Palästinas nach
„Die SPD hat eine klare Haltung zu Israel eingenommen: Waffen, die für völkerrechtswidrige Aktionen etwa in Gaza eingesetzt werden könnten, sollten nicht mehr geliefert werden. Der israelischen Regierung muss klargemacht werden, dass sie einen ihrer letzten Verbündeten verlieren könnte, die deutsche Bundesregierung. Deswegen wäre es gut gewesen, wenn auch Deutschland den Brief der 28 Staaten unterzeichnet hätte“, sagt Siemtje Möller der F.A.Z. Möller ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende und gehört dem konservativen Flügel der Partei an. Die Kritik an Israels Vorgehen in Gaza gibt es also in der ganzen Partei. Ein Brief der Außenpolitiker Adis Ahmetovic und Rolf Mützenich, in dem Israel scharf kritisiert wird, wurde von der gesamten Fraktion unterstützt.
Immer lauter wird in der Partei nun auch darüber nachgedacht, ob und wann man einen Staat Palästina anerkennen könnte. Nachdem der französische Präsident diesen Schritt angekündigt hatte, war es die SPD-Politikerin Möller, die das sogleich einordnete, um die eigenen Leute einzuhegen: „Für uns ist klar, dass die Anerkennung eines palästinensischen Staates kein Tabu sein darf. Eine heutige Anerkennung würde allerdings an der schrecklichen Situation in Gaza zunächst nichts ändern.“ Aber auch Möller sagt, dass eine Anerkennung Palästinas nicht der letzte Schritt eines Friedensprozesses sein könne, sondern Teil des Prozesses sein müsse. Auch hier könnte es zum Konflikt mit der Union kommen. „Die israelische Regierung isoliert sich durch ihre Handlungen zunehmend“, sagt Möller.
Wadephul will in Israel noch nicht verraten, was er dem Sicherheitskabinett als Erkenntnis mitbringen wird. Er wird auf der Reise begleitetet von Möller und dem CDU-Politiker Paul Ziemiak. Das darf man als ein koalitionäres Zeichen lesen. Am Freitag lässt er sich beim Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten erklären, wie schwierig es ist, Hilfsgüter in den Gazastreifen zu bekommen. Wadephul kündigt fünf Millionen Euro zusätzlich für das UN-Welternährungsprogramm an und deutsche Hilfe für den Aufbau eines Feldkrankenhauses der Malteser in Gaza-Stadt. Er trifft Angehörige von Geiseln, und besucht in Ramallah Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Und Wadephul steht in dem christlichen Dorf Taybeh und sagt: „Die Region steht an einem Scheideweg.“ Die Koalition womöglich auch.