Alle haben mit „Ja“ gestimmt, als das Parlament der Ukraine am Donnerstag ein Gesetz zurücknahm, mit dem es nur neun Tage zuvor die zentralen Institutionen des Landes im Kampf gegen die Korruption demoliert hatte. Es gab keine einzige Gegenstimme und keine Enthaltung.
Die Einhelligkeit in der Kehrtwende zeigte: Die Abgeordneten wussten, was sie angerichtet hatten, als sie unter der Führung von Präsident Wolodymyr Selenskyj am 22. Juli die Unabhängigkeit der Antikorruptionspolizei NABU und der Antikorruptions-Staatsanwaltschaft SAPO zerstörten. Plötzlich war die Kiewer Bürgerbewegung wieder zu Tausenden auf der Straße – dieselbe, die in den Maidan-Revolten von 2004 und 2014 Präsidenten in die Knie gezwungen hatte. Und während die Straßen kochten, signalisierte die EU, dass sie ihre Milliardentransfers stoppen werde, würde der Schaden nicht sofort behoben.
Der Grund des Zorns: Selenskyjs Apparat hatte die Strukturen, die in der Ukraine die Korruption eindämmen, an zwei Stellen schwer beschädigt. Zuerst griff er AntAC an, die stärkste zivilgesellschaftliche Antikorruptionsorganisation des Landes. Der Geheimdienst SBU, der dem Präsidenten untersteht, durchsuchte die Wohnung des AntAC-Chefs Vitalij Schabunyn, der seit 2022 bei der Armee dient. Die Beamten verhörten ihn und begannen ein Verfahren, weil er als Aktivist seine Einheit unerlaubt verlassen haben soll. Schabunyn sagt dazu, er sei tatsächlich Soldat und Kämpfer gegen die Korruption zugleich gewesen, aber sein Vorgesetzter habe das genau so gewollt. In einer Analyse von EU-Fachleuten, die der F.A.S. vorliegt, heißt es dementsprechend, man betrachte das Vorgehen gegen ihn als Teil einer „einheitlichen Strategie zur Eindämmung der Antikorruptionsstruktur“ im Lande.
Vernichtende Analyse zuständiger Fachleute
Zehn Tage später, am 21. Juli, folgte der nächste Schlag, aber dieses Mal traf es ganze Institutionen: Der Geheimdienst durchsuchte Büros von NABU und SAPO und nahm Beamte fest. Begründung: Verkehrsdelikte sowie angebliche Agententätigkeit für Russland. Tags darauf setzte Selenskyj im Parlament jenes Knebelungsgesetz gegen beide Behörden durch, das dann die Kiewer Straßen mit Demonstranten füllte.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Kurz darauf erhielten die EU-Botschaften in Kiew die erste interne Analyse der zuständigen Fachleute. Sie war vernichtend: An der Legalität des Vorgehens gegen NABU und SAPO gebe es „ernste Zweifel“, und die Durchsuchungen seien ohne richterliche Anordnung erfolgt, was als „Amtsmissbrauch“ bewertet werden könne. Die Entmachtungsgesetze, die tags darauf folgten, machten dann alles noch schlimmer, denn Angriffe auf unabhängige Antikorruptionsbehörden gefährden die Aufnahme der Ukraine in die EU.
Warum aber hat Selenskyj diese Gefahr in Kauf genommen? Zwei Quellen aus Kreisen der EU sagen: Er wollte eine Gelegenheit namens Donald Trump nutzen. Dem nämlich ist es egal, ob die Ukraine Korruption bekämpft oder nicht. „Früher haben die Amerikaner sehr harte Bedingungen gestellt“, sagt ein westlicher Gesprächspartner in Kiew. Dieses Druckmittel sei jetzt weg, und Selenskyj habe wohl testen wollen, was geht.
Machtzentrum des Präsidenten im Visier
Außerdem gab es einen konkreten Anlass: In den vergangenen Wochen hatte das NABU zum ersten Mal auch das Machtzentrum des Präsidenten ins Visier genommen. Im Juni durchsuchte es eine Wohnung von Rostyslaw Schurma, einem früheren stellvertretenden Kanzleichef Selenskyjs, weil dessen Bruder offenbar unerlaubt Subventionen für einen Solarpark bezogen hatte, der längst von den russischen Invasoren besetzt war.
In anderen Fällen drangen die Ermittler in jenen Kreis von Vertrauten ein, die der Präsident aus seiner früheren Fernsehproduktionsgesellschaft Kvartal 95 mitgebracht hat. Im Juni nahm die NABU einen Verwandten von Timur Minditsch fest, einem Mann, der aus den Zeiten bei Kvartal 95 viel über Selenskyjs früheres Leben weiß.
Noch schmerzhafter war der Fall Olexij Tschernyschow. Auch er kommt von Kvartal 95, seine Frau ist mit der Frau des Präsidenten befreundet, man feiert zusammen Geburtstag, und Tschernyschow hat es bis zum stellvertretenden Ministerpräsidenten gebracht.
Ausgerechnet gegen diesen Mann begann das NABU nun zu ermitteln. Der Vorwurf: Machenschaften, in denen Investoren Bauland für ein Fünftel des Preises bekommen hätten. Im Gegenzug habe es dann verbilligte Wohnungen gegeben. Tschernyschow bestreitet das, aber der Fall erregte so viel Aufsehen, dass Selenskyj ihn im Juli fallen lassen musste.
Ein Punkt, dessen Berührung zur Explosion führt
In der Analyse der EU wird dieser Fall als „Trigger“ beschrieben – als der Punkt, dessen Berührung zur Explosion führt. Die Schläge gegen NABU und SAPO waren demnach nicht wie behauptet Maßnahmen gegen „russische Agenten“. Vielmehr dränge sich die Interpretation auf, hier sollten die Ermittler gegen Tschernyschow delegitimiert werden.
Hat Selenskyj damit die Maske fallen lassen? Ist der Mann, dessen Courage am Beginn des russischen Angriffs die Nation inspiriert hat, nur ein weiteres Glied in einer Reihe von korrupten Präsidenten, die sich das Land zur Beute gemacht haben?
Die Zahlen bestätigen das nicht. Unter Viktor Janukowitsch, der 2014 nach Russland floh, hat die sogenannte Familie des Präsidenten, ein Clan von Ministern, Richtern, Stahlbaronen und Kriminellen, nach Angaben von Transparency International 34 Milliarden Euro veruntreut. In Janukowitschs geheimem Palast fand man vergoldete Bäder, einen Privatzoo und ein schwimmendes Restaurant in Form eines Piratenschiffs. Das ist eine andere Dimension als die Vorteile im Wert von 317.000 Euro, die Selenskyjs Freund Tschernyschow nach Ansicht des NABU eingesteckt haben soll.
Ein sauberer Präsident, der Korruption duldet?
Dem Präsidenten selbst werfen nicht einmal die strengsten Aktivisten der Bürgerbewegung persönliche Bereicherung vor. Jaroslaw Jurtschyschyn, früher Direktor von Transparency International Ukraine, heute Abgeordneter der Opposition, sagt jedenfalls, der Präsident sei vermutlich „nicht persönlich korrupt“ und wirtschafte nicht „in seine eigene Tasche“. Allerdings akzeptiere er „Elemente von Korruption, weil er vielleicht glaubt, das sei effizient“. Auch Vitalij Schabunyn, der Soldat und Aktivist, den der Geheimdienst bedrängt, sieht „keine klaren Beweise, dass der Präsident für sich selbst stiehlt“. Es sei allerdings schlimm genug, dass er Diebstahl dulde.

Wie aber passt das zusammen: ein sauberer Präsident, der Korruption duldet? In Kiew hört man mehrere Erklärungen. Eine davon ist das Parlament. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hatten sich in der Ukraine neue Machtzentren rund um große Industriebetriebe und ihre Direktoren gebildet. Mit dem Geld, das sie erbeuteten, gründeten die Oligarchen Parteien, kauften Parlamente und Präsidenten. Die Maidan-Revolution von 2014 drängte sie zwar ein Stück weit in den Hintergrund, aber ihre Parteien haben als Oppositionsfraktionen weiter Stimmen im Parlament. Wer sie kontrollieren will, muss sie bestechen, und weil die Präsidentenpartei „Diener des Volkes“ instabil ist, braucht Selenskyj nach Ansicht von Insidern schwarze Kassen, um Mehrheiten zu beschaffen.
Zeuge berichtet von Selenskyjs Reaktion auf Bestechungsgelder
Wer aber schwarze Kassen braucht, muss Leute um sich dulden, die mit so etwas umgehen können. Auch vom Präsidenten wird das berichtet. Ein Zeuge hat der F.A.S. gesagt, er sei dabei gewesen, als jemand Selenskyj erzählt habe, wie er in der Bauwirtschaft Bestechungsgelder verteilt habe. „Ich sah, wie der Präsident lachte, und dann so etwas antwortete wie: ,Hört euch diesen Typen an! Der weiß, wie es geht.‘“ Selenskyjs Pressestelle hat dazu auf Anfrage nicht Stellung genommen.

Eine weitere Erklärung ist der Krieg. Schnelle Befehle, schnelle Erfüllung sind das Gebot der Stunde. Statt Gewaltenteilung will die Führung, wie es ein westlicher Insider ausdrückt, „Beinfreiheit“. Korruptionsermittler können da nur stören, und deshalb heißt es im Analysepapier aus EU-Kreisen auch, Selenskyjs Schläge gegen NABU und SAPO seien Ausdruck eines Kampfes um die „Dominanz der exekutiven Vertikale“.
Korrupte Strukturen scheinen im Krieg manchmal nützlich
Die „New York Times“ hat unlängst beschrieben, wie es sein kann, dass korrupte Strukturen im Krieg manchmal nützlich scheinen. Nach der Invasion von 2022 waren Millionen Ukrainer geflohen, Dienststellen leer, und im Verteidigungsministerium musste man mit einer Rumpfmannschaft plötzlich Munition in nie da gewesenen Mengen beschaffen. Es gelang – aber eben nur mithilfe dubioser Mittelsmänner.
Offenbar sind diese Methoden immer noch in Gebrauch. „Selenskyj akzeptiert Elemente von Korruption, weil er vielleicht glaubt, das sei effizient,“ sagt Jurtschyschyn. Sein Motto sei: „Ich will lieber einen effektiven, aber leicht korrupten Manager als einen Manager ohne Ergebnisse.“ Im Krieg, wo man jeden Tag Menschenleben verliere, könne so eine Einstellung zwar auf den ersten Blick „verständlich“ erscheinen. Trotzdem hält Jurtschyschyn es für die „falsche Wahl“, aus scheinbarem Pragmatismus Bestechlichkeit und Bestechung hinzunehmen. Einer, der die inneren Kreise des Präsidenten kennt, sagt dazu, mit der Korruption sei es eben „wie mit dem Rauchen“. Man könne weitermachen, weil man glaube, es zu brauchen, aber man könne es sich auch abgewöhnen.
Warum das sein muss, zeigen nicht zuletzt die Geschäfte, von denen die „New York Times“ berichtet hat: Eine Untersuchung zeigte später, dass die Hälfte der damalige Waffenlieferungen entweder unvollständig oder zu spät eintraf.
Wo also steht die Ukraine unter Selenskyj? Manche Umfragen zeigen, dass die Leute hier den Kampf gegen die Bestechlichkeit noch wichtiger finden als den Kampf gegen Russland, und seit der Revolution von 2014 hat sich das Land auf dem Korruptions-Wahrnehmungsindex von Transparency International von Platz 144, punktgleich mit Papua-Neuguinea, auf Platz 105 hochgearbeitet, also knapp vor die Türkei. Die großen Oligarchen, die früher Präsidenten wie Handpuppen führten, haben viel von ihrem Einfluss eingebüßt. Der mächtigste von ihnen, Rinat Achmetow, hat seine Stahlwerke im Donbass verloren, als Russland einmarschierte. Der zweitmächtigste, Ihor Kolomojskij, sitzt im Gefängnis.
Allerdings zeigten die Indikatoren bei Transparency International zuletzt wieder nach unten, und jetzt hat der Präsident durch seine Schläge gegen NABU und SAPO viel Vertrauen verloren.
Die Meinungen über ihn sind geteilt. Die „Ukrainska Prawda“, das wohl wichtigste Internetportal des Landes, warnte unlängst vor der „Orbanisierung“ der Ukraine, und Daria Kaleniuk, neben Schabunyn die zweite führende Figur bei AntAC, meint, Selenskyj sei „inspiriert von Erdogan“. Ein Kenner aus dem Westen widerspricht. Er weist darauf hin, dass es in der Ukraine freie Medien, freie Debatten und freie Demonstrationen gibt. Noch müsse man nicht das Ende der Demokratie ausrufen. „Was wir sehen, sind robuste Auseinandersetzungen unter Demokraten“, sagt er.