Reiche zeigt das große Dilemma der schwarz-roten Regierung

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So etwas hört die Wirtschaftsministerin in diesen Tagen gern. Katherina Reiche ist gerade am Containerterminal Altenwerder zu Gast, einem der modernsten im Hamburger Hafen, und lässt sich von den Gastgebern die Technologie erläutern. Auf der einen Seite rangiert ein Bus für die Hafenbesichtigung, der die Aufschrift „Tour der Giganten“ trägt, auf der anderen parkt die in Panama registrierte „NYK Oceanus“, ein 336 Meter langes Schiff, das mehr als 100.000 Tonnen Ladung aufnehmen kann, was exakt 8628 Standardcontainern entspricht. Riesige Kräne der Marke Liebherr hieven diese Container nun Stück für Stück herunter.

Was an den Stahlungetümen allerdings fehlt, sind Fahrerkabinen. Alles geschieht hier vollautomatisch, von Menschen lediglich aus der Ferne in einer Leitzentrale überwacht. Damit werde das Un­ternehmen seiner sozialen Verantwortung gerecht, sagt der Herr von der Hafengesellschaft. Schließlich entfalle auf diese Weise die harte körperliche Arbeit, und die Beschäftigten könnten bis ins höhere Alter ihre Aufgaben wahrnehmen.

Länger arbeiten, die Technik macht’s möglich: Das sind Dinge, die Katherina Reiche erfreuen in diesen Tagen, seit die Christdemokratin im Interview mit der F.A.Z. nicht zum ersten Mal eine Debatte über die Wochen- und vor allem die Lebensarbeitszeit losgetreten hat.

Bloß dass sie damit die soziale Gerechtigkeit befördere, bezweifelten dann einige, vor allem auf dem Arbeitnehmerflügel ihrer eigenen Partei, der CDU, aber natürlich auch beim sozialdemokratischen Koalitionspartner. Und der Kanzler schwieg, er hatte das Thema schon im Vorwahlkampf einkassiert. Aufgebracht hatte es damals übrigens Reiches heutige Mittelstandsbeauftragte Gitta Connemann.

Das Amt erfordert einen Spagat

Das Thema ist aus mehreren Gründen interessant. Zum einen natürlich, weil inzwischen immer mehr Menschen innerhalb und außerhalb der Po­litik bezweifeln, ob die Regierung mit ihrer Idee durchkommt, erst einmal das Rentenniveau auf jetziger Höhe zu garantieren und dann eine Kom­mission einzusetzen, die im Jahr 2027 irgendwelche Vorschläge für eine Reform der Altersbezüge macht, deren Umsetzung man vielleicht lieber einer Nachfolgeregierung überlässt. Zum zweiten auch deshalb, weil Reiche im Gegensatz zur sozialdemokratischen Arbeitsministerin Bärbel Bas für das Thema gar nicht zuständig ist, also vergleichsweise gefahrlos weitreichende Vorschläge machen kann.

Vor allem aber, weil Reiches neues Amt durchaus einen Spagat erfordert – einen Spagat, der zugleich für das Dilemma der schwarz-roten Regierung im Ganzen steht. Einerseits will die Koalition das Land dynamischer machen, die Digitalisierung vorantreiben, Zukunftsbranchen fördern, das Sozialsystem auf verlässlichere Beine stellen, Bürokratie abbauen. Andererseits will – und muss – sie aber auch Kontinuität vermitteln, Sicherheit, das Hü und Hott der Ampelregierung vergessen machen – und den vielen Wählern entgegenkommen, die sich auf die eine oder andere Weise nach einer vermeintlich besseren Zeit zurücksehnen. Digitalisieren und zugleich eine AfD bekämpfen, die das „Recht auf ein analoges Leben“ vertritt. Die Kosten für die Sozialsysteme in den Griff bekommen und die Leute zugleich in Sicherheit wiegen.

Kurzum: Die Regierung muss Disruption zulassen und zugleich verhindern, weil sonst noch mehr Wähler zu dem Extremen abwandern könnten. „Sicherheit im Wandel“, so oder ähnlich plakatierten es vor allem Union und SPD schon seit Jahrzehnten in beinahe jedem Wahlkampf. Nur dass es heute mehr Wandel gibt und deshalb auch ein noch mal größeres Bedürfnis nach Sicherheit.

Ein Symbol für das gerupfte Ressort

Katherina Reiche kennt sich damit aus, und zwar mehr, als sie nach außen normalerweise zu erkennen gibt. Bei ihren Auftritten wirkt sie oft kühl, manchmal sogar etwas patzig, jedenfalls nicht als zugewandter Menschenfänger wie ihr Vorgänger Robert Habeck. Sie behält die Dinge gern unter Kontrolle, meidet Situationen, in denen irgend­etwas Überraschendes passieren könnte.

Sie ließ sich schon in ihren vorherigen Funktionen von Mitarbeitern doppelt und dreifach auf Auftritte vorbereiten, was ihre Leute nicht immer angenehm fanden, um es vorsichtig zu sagen. Mit anderen Worten: Sie sucht nach Sicherheit, weil sie die Unsicherheit kennengelernt hat. Als jüngere Frau aus dem Osten in der Domäne von älteren Herren aus dem Westen, aber eben auch im eigenen Umfeld während der schwierigen Nachwendezeit.

Reiche war 17 Jahre alt, als die Mauer fiel. Ihre Eltern übernahmen den zu DDR-Zeiten verstaatlichten Familienbetrieb für Kunststoffteile („Plaste-Schulze“), in dem der Vater Technischer Leiter war, wieder in Familienbesitz. Reiche selbst studierte Chemie, engagierte sich parallel in der Jungen Union und zog schon im Jahr ihres Diplom­abschlusses in den Bundestag ein, als damals jüngste Abgeordnete neben dem heutigen Umwelt­minis­ter Carsten Schneider von der SPD. Die Fir­ma der Eltern, an der sie bis 2003 beteiligt war, geriet derweil ins Straucheln, konnte sich nach einer Um­gründung aber behaupten. Ihr muss niemand etwas erzählen über die schwierigen Anfangsjahre nach der Wende, auch wenn sie darüber nicht so oft redet.

An diesem Dienstag im Juli macht sie es doch. Sie sitzt am Besprechungstisch ihres Amtszimmers, hinter sich der Schreibtisch, der zu einem Stehpult hochgefahren ist. Es ist ein nüchternes Büroge­bäude in Berlin-Mitte, nicht mehr der prunkvolle Bau der militärärztlichen Akademie aus der Zeit des alten Preußen, wo Habeck in seiner Amtszeit leicht auch größere Partys hätte veranstalten können. Mit dem Amtswechsel hat das allerdings nichts zu tun, der renovierungsbedingte Umzug war zuvor schon geplant. Aber es wirkt auch ein bisschen wie ein Symbol für das gerupfte Ressort, das auf Druck der Koalitionspartner von SPD und CSU wichtige Kompetenzen an Umwelt-, Finanz- und Technologieressorts abgeben musste – und das in der CDU zunächst niemand haben wollte, weder Generalsekretär Carsten Linnemann noch der jetzige Fraktionschef Jens Spahn.

Peter Hintze nahm sie unter seine Fittiche

Eine ganze Weile hat sie jetzt schon darüber gesprochen, dass die Strompreise sinken müssen, warum der Leitungsausbau gedrosselt werden kann, und ob der Ausstieg aus der Atomkraft ein Fehler war. Sie hat es in dem Habitus getan, mit dem sie auch öffentlich auftritt, oft in einer gewissen Verteidigungshaltung. Jetzt wird der Ton auf einmal weicher, versöhnlicher.

„Es gab Anfang der Neunziger die Erfahrung des Umbruchs, viele haben teilweise über Nacht ihre Arbeit, ihre Perspektive verloren. Viele Menschen mussten sich vollkommen neu orientieren, wieder hocharbeiten“, sagt sie. „Dann folgten die nächsten Umbrüche. In der Lausitz zum Beispiel wurden Anfang der 2000er-Jahre die modernsten Kohlekraftwerke gebaut. Dann wurde Klimaschutz zu Recht immer wichtiger und drängender. Die im Kraftwerksgeschäft Tätigen fühlten sich jedoch öffentlich an den Pranger gestellt. Wenn man öffentliche Beschimpfungen ertragen muss, dann macht das etwas mit den Menschen, sie fühlen sich ihrer Biographie beraubt.“

Manche haben sich nach Reiches Berufung zur Wirtschaftsministerin gefragt, wie sich das zusammenbringen lässt, die junge ostdeutsche Naturwissenschaftlerin von einst, die von der Klimakanzlerin Angela Merkel gefördert wurde, und die Ministerin im Kabinett von Friedrich Merz heute, die aus den Klimadebatten erst einmal Tempo herausnehmen will. Kein Geringerer als Peter Hintze hatte sie als junge Abgeordnete einst unter seine Fittiche genommen, der Mann, der in der Öffentlichkeit als etwas ungelenker Generalsekretär mit allzu platter Rote-Socken-Kampagne in Verruf geraten war, dann aber eine zweite und weit wirkungsvollere Karriere als Strippenzieher einer liberaleren CDU im Hintergrund machte. In der Merkel-Zeit war Reiche Parlamentarische Staatssekretärin im Umweltministerium unter Norbert Röttgen, als der Atomausstieg beschlossen wurde.

Abschätzige Bemerkungen über homo­sexuelle Paare

Aber vielleicht ist die ostdeutsche Unternehmertochter doch näher an den wirtschaftspolitischen Überzeugungen Merkels, als es nach außen den Anschein hat. Schließlich fand auch die frühere Kanzlerin, dass alles, was ausgegeben wird, erst einmal erwirtschaftet werden muss – auch wenn sie nicht in jeder Phase ihrer Regierungszeit danach handelte. Und beide eint ein erstaunlicher Pragmatismus in Fragen, die man doch für grundsätzlich halten sollte. Ähnlich wie Merkel in der von ihr ermöglichten Abstimmung über die Ehe für alle mit Nein votierte, suchte Reiche die parteiinterne Kritik an ihrem Familienstand als unverheiratete Mutter mit abschätzigen Bemerkungen über homo­sexuelle Paare zu kompensieren: „Unsere Zukunft liegt in der Hand der Familien, nicht in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften.“

Und vielleicht hat ihre Politik auch stark damit zu tun, dass sie bei aller Rhetorik von Aufbruch und Veränderung um die Beharrungskräfte weiß, die sich gerade aus dem beschleunigten Wandel ergeben. „Der Soziologe Armin Nassehi hat kluge Dinge darüber geschrieben, wie viel Veränderung eine Gesellschaft verarbeiten kann. Daraus muss man lernen, weil wir ja weiter Veränderung erleben, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen“, sagt sie. „Nach Nassehi gelingen gesellschaftliche Veränderungen, wenn neue Lösungen besser sind als der alte Status quo und von den Menschen angenommen werden. Sie verlaufen schrittweise und nicht abrupt, es geht um Evolution, nicht Revolution.“ Wichtiger als moralische Appelle seien attraktive Alternativen und das Vertrauen in Institutionen, die Stabilität bieten. „Bewährte Verän­derungen setzen sich dann durch, wenn sie zur Lebenswirklichkeit der Menschen passen.“

Nassehi, das muss man vielleicht dazusagen, war schon der Haussoziologe des Vorgängers Habeck, der um all diese Dinge wusste und am Ende doch daran scheiterte.

Reiche will die Energiewende bezahlbar machen

Reiche kennt das Phänomen nicht nur aus ihrer brandenburgischen Heimat, sondern inzwischen auch aus dem tiefen Westen der Republik. Zuletzt war sie Chefin von Westenergie, der größten Tochter des Energiekonzerns Eon, verantwortlich für die Leitungen, die Millionen Haushalte in Nordrhein-Westfalen und angrenzenden Regionen mit Strom, Gas, Wasser und Breitbandinternet ver­sorgen. Ihr Schreibtisch stand in Essen, mitten im Ruhrgebiet, wo die AfD in einem Wahlkreis wie Gelsenkirchen bei der Bundestagswahl auf den ersten Platz der Zweitstimmen kam. Auch hier ist der Strukturwandel nach dem früheren Ende des Steinkohlebergbaus schon in der zweiten oder dritten Runde angelangt, gelten manche der verbliebenen Industrien schon wieder als gestrig. Auf dem Gelände des früheren Opelwerks in Bochum entstand anschließend ein Paketzentrum, die verbliebene Stahlindustrie steckt tief in der Krise.

Deshalb geht es ihr jetzt erst mal um die Kosten. Sie will die Energiewende bezahlbar machen. „Dass Wind und Sonne keine Rechnung schicken, stimmt nicht“, sagt sie. „Die Förderung der Erneuerbaren Energie wird in diesem Jahr 17 Milliarden Euro kosten.“ Der nötige Netzausbau koste viel Geld, finanziert werde das von den Stromverbrauchern und aus dem Bundeshaushalt, also den Steuerzahlern. „Deshalb müssen wir zu einer Dämpfung der Systemkosten kommen.“ Soll heißen: Es genügt nicht, Stromkosten zu senken, indem öffentliche Haushalte wie zuletzt Speicher­umlage oder Netzentgelte übernehmen. Auch die Kosten selbst müssen sinken, schon weil die Verteilungskämpfe um Haushaltsgelder in den nächsten Jahren härter werden. Mit Aussagen, was das konkret bedeutet, ist sie seit der Aufregung um ihren Rentenvorstoß allerdings noch mal vorsichtiger geworden.

Auf ihrer Sommerreise ist die Ministerin mittlerweile in Kassel angekommen, der August hat schon angefangen. Sie steht in der Werkshalle des Rüstungsherstellers KNDS, der aus dem Panzerbauer Krauss-Maffei Wegmann hervorgegangen ist. Dafür, dass auch auf diesem Werk die neuen Hoffnungen der Bundeswehr ruhen, wirkt die Fertigung erstaunlich klein. Reiche positioniert sich vor einem Artilleriegeschütz, das aus dem Fahrgestell eines Boxer-Panzers besteht, auf dem die Panzerhaubitze 2000 montiert ist. Auch hier geht es ums Bewahren. „Wirtschaft und Sicherheit“, sagt sie, „sind untrennbar verbunden.“ Wenn das so einfach wäre, nicht bloß beim Militär.