Was machen ukrainische Kinder in den Sommerferien?

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Beim „Willenswettbewerb“ im Camp vom „Jungen Nationalistischen Kongress“ in der Region Kiew müssen Baumstämme getragen werden.




Ein lautes Pfeifen in der Dunkelheit des Waldes. Innerhalb von Sekunden stürmen aus großen Zelten zwei Dutzend Jugendliche und stellen sich im Gras stramm in einer Reihe auf. „Tourniquets, rechtes Bein“, lautet der Befehl, der durch die laue Sommernacht hallt. Hastig holen sie die Aderpressen aus ihren Hosentaschen und binden sie sich um, drehen sie ganz fest zu, bis es schmerzt. Nur ein paar Stirnlampen spenden Licht. Die Gesichtszüge der jungen Menschen sind ernst, sie tragen lange Camouflage-Hosen.

Im Sommercamp in den Wäldern der Region Kiew lernen sie hier, wie sie sich im Falle einer schweren Verletzung selbst die Gliedmaßen abbinden müssen, um nicht zu verbluten – drei Stunden mit der Regiobahn und eine weitere halbe Stunde mit dem Minibus von der ukrainischen Hauptstadt entfernt, die gerade fast jede Nacht Ziel russischer Luftangriffe ist. Eigentlich waren die Jugendlichen nach einem Lagerfeuerabend mit Gitarre und Gesang zur Nachtruhe in die Zelte beordert worden, für das Erste-Hilfe-Training wurden sie wieder herausgescheucht.











Sie sei hier, um ein starker Mensch zu sein, berichtet mir die neunzehn Jahre alte Otawa, als ich sie während einer der wenigen Verschnaufmomente beim Mittagessen abpasse. Otawa ist das ukrainische Wort für junges Gras, das nach dem Mähen nachwächst. Das Pseudonym passt zu der jungen schlanken Frau mit blondem Zopf, die eigentlich Julia heißt und aus einem kleinen Ort in der west­ukrainischen Region Ternopil stammt. Jetzt studiert sie Management in Kiew. Auf ihrem militärgrünen T-Shirt steht: „Die Ukraine ist mein Selbstzweck.“ Ein Zitat von Oleksandr Minenok – Jahrgang 1998, gefallen im November 2022 bei der Verteidigung der Ukraine.

Wie er es war, ist auch Otawa Mitglied der Organisation Junger Nationalistischer Kongress, kurz MNK, die dieses Sommercamp veranstaltet. „Ich sehe meine Zukunft noch nicht in der Armee“, sagt Otawa mit wachem Blick, „aber ich bereite mich jeden Tag darauf vor.“

Die Neunzehnjährige hat eine leitende Funktion inne, führt den zweiten von insgesamt vier Trupps an, denen die 29 Teilnehmer zwischen 16 und 24 im Lager zugeteilt wurden. Das Sagen haben die Kameradin Dyka, die alle nur „Komman­dant“ nennen, sowie der für die Ein­hal­tung der Disziplin zuständige Kamerad Pidkova – zu Deutsch: Hufeisen. Unter diesen beiden Anführenden stehen in der Camphierarchie ein halbes Dutzend Teamleiter und eine Sanitäterin, allesamt junge Menschen in ihren Zwanzigern. Dann kommen die Truppführer und am Ende die übrigen Teilnehmer.




Im sechstägigen MNK-Camp, das den Namen „Untergrund“ trägt, herrschen klare Regeln. Wer sie bricht, wird mit Kniebeugen und Liegestützen bestraft. Ein wichtiger Grundsatz lautet: Es darf nur ukrainisch gesprochen werden. Daneben gibt es viele weitere, die auch für Gäste wie mich und den Fotografen Mykhailo gelten. Vor der vom Küchendienst über dem Feuer zubereiteten Mahlzeit muss gebetet werden. Im „Untergrund“ ist man griechisch-katholisch, wie in weiten Teilen des ukrainischen Westens. Alkohol und Zigaretten sind strikt untersagt.







Pünktlichkeit und Disziplin sind das Allerwichtigste. Um kurz nach acht Uhr morgens wird das Camp mit einem archaisch anmutenden Morgenappell eröffnet, einem Aufmarsch auf einer großen Lichtung vor zwei hölzernen Kreuzen. Strammstehen, die blau-gelbe ukrainische Flagge und die rot-schwarze Flagge des MNK – sie ist in den Farben des historischen Vorbilds, der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), gehalten – an dem großen Kreuz hissen, die Nationalhymne singen.

Und wieder ein Aufmarsch, am Abend, die vier Truppenführer erstatten Kamerad Hufeisen Bericht über die Einhaltung der Disziplin in ihren Reihen. Die Stechmücken hier im Wald sind aggressiv, doch es ist verboten, sie während des Appells zu verscheuchen oder sich gar zu kratzen. Um Punkt 9 Uhr wird dann mit einer Schweigeminute der im Krieg Gestorbenen gedacht, wie überall in der Ukraine. Auch viele MNK-Mitglieder sind unter den Gefallenen. Zwischen den beiden Aufmärschen gibt es viel zu tun: Abwechselnd stehen kriegsvorbereitende physische Ertüchtigungen wie Kämpfe und „Gespräche“ auf dem Programm.

Am Vormittag geht es um die Ideologie des „Untergrund“-Camps. Der Name spielt auf die geheimen Aktivitäten der ukrainischen Nationalisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an, die die Errichtung eines souveränen ukrainischen Staates zum Ziel hatten und sich – nachdem sie zunächst mit den Nationalsozialisten kooperiert hatten – gegen die deutsche Besatzung richteten und später gegen die sowjetische.

Die Jugendlichen haben sich für die Diskussion unter einem Stoffpavillon in Camouflage-Muster auf den Boden gesetzt. Vorn ist eine Leinwand aufgestellt, auf der eine Powerpointpräsentation zum Thema Nationalismus zu sehen ist. Das löst ein wenig Unbehagen in mir aus, aber auch Neugier.






Bei der Diskussion sagt er, oft befände man sich mit moralischen Fragen in der Grauzone. „Aber in dem Fall, wenn durch eine Bedrohung wirklich viel auf dem Spiel steht, wird die Welt schwarz-weiß.“ Ein anderer Teilnehmer knüpft daran an. Wer dein Land überfalle, sei der Feind, Punkt. Auf seinen Hass müsse man mit Hass antworten.

Nachmittags muss Goblin die beiden Flaggen am hölzernen Kreuz bewachen, die im Untergrund-Camp als heilig gelten. Er steht in der prallen Sonne, blickt nach vorn. Aufs Handy zu schauen, ist tabu. Aber genau für diese Art der Abhärtung ist er schließlich hier. Später beim Rugby legt er sich richtig ins Zeug, kassiert sogar ein blaues Auge.




Am meisten beeindruckt mich aber der mittägliche „Willenswettbewerb“, bei dem die vier Trupps des Lagers gegeneinander antreten. Es gewinnt derjenige, der es schafft, in einer Reihe positioniert, einen Baumstamm möglichst lange über den Köpfen zu balancieren. Es geht um Ausdauer und Koordination.

„Ist das alles?“, schreit Kommandant Dyka, nachdem die Trupps bei einem Probedurchgang nach wenigen Minuten aufgegeben haben, „das sind doch Zahnstocher!“ Die Jugendlichen sind der Mittagssonne ausgesetzt, teils müssen sie die Aufgabe im Stehen und mit extradicken Baumstämmen erfüllen. „Das Halten der Zahnstocher hat begonnen!“, verkündet der Kommandant, ohne jede Ironie.







Der Schweiß tropft, die jungen Gesichter sind innerhalb kürzester Zeit vor Anstrengung verzerrt. Der Leiter des dritten Trupps, ein junger blonder Mann, versucht, seine Leute zu motivieren. „Wenn wir wieder in Kiew sind, kaufe ich euch allen einen Hamburger!“ Damit hat er Erfolg. Sein Trupp gewinnt – ganze 35 Minuten haben die Jugendlichen den Baumstamm über ihren Köpfen gehalten. Sie wirken entschlossen. Mir fällt es schon schwer, in der sengenden Hitze meine Beobachtungen zu notieren.

Das Camp bewegt sich zwischen Cos­play, spielerischer Aneignung des ukrainischen Nationalismus der Vergangenheit und bitterer Kriegsrealität, in der die Jugendlichen leben. Sie möchten nicht von Russland unterjocht werden und bereiten sich in ihrer Freizeit darauf vor, für eine freie Ukraine zu kämpfen.

Gleichzeitig erscheint die Ideologie, der sie frönen, wie aus der Zeit gefallen. Was ist mit Minderheiten in der heutigen Ukraine?, frage ich mich. Was mit den Massakern der UPA, des militärischen Flügels der OUN, an Polen und Juden während des Zweiten Weltkriegs?

Als das Gespräch auf Stepan Bandera kommt, historische Führungsfigur der ukrainischen Nationalisten, stellt der Kommandant sofort klar, dass der im KZ gesessen habe und ein Opfer des NS-Regimes gewesen sei. Das ist allerdings nur zum Teil richtig, zwar war Bandera in Sachsenhausen inhaftiert, jedoch erhielt er dort eine Vorzugsbehandlung. Und der spätere Konflikt mit den Nationalsozialisten hebt auch nicht die zuvor begangenen Verbrechen der UPA auf.

Die existenzielle Bedrohung von außen führt zum Wunsch nach einer eindeutigen, makellosen Identität, die Halt gibt. Wie die Historiker John-Paul Himka und Joanna Beata Michlic betonten, geht es bei kollektiver Erinnerung nicht unbedingt darum, die Vergangenheit korrekt zu sehen, sondern häufig auch darum, ein positives Selbstbild als Gemeinschaft zu bewahren und nationale Mythen zu pflegen. Dunkle Kapitel werden dadurch schnell zum Störfaktor, den man lieber ganz verschweigt.

Politisch im rechten Spektrum angesiedelte Sommerlager wie der „Untergrund“, die auf das Leben und Überleben an der Front vorbereiten, werden seit Beginn des Krieges 2014 und besonders seit der Großinvasion 2022 in der Ukraine immer beliebter – es gibt aber auch ganz andere. Etwa 400 Kilometer südwestlich vom „Untergrund“ findet in der Region Czernowitz im Karpatengebirge zeitgleich das „Voices Camp“ für vom Krieg traumatisierte Kinder und Jugendliche statt. Die Lage ist idyllisch, die Wiese vor dem Sommercamp übersät von bunten Blumen, die Luft ungewohnt frisch. Die Grashüpfer zirpen lautstark, nebenan plätschert ein kleiner Wasserfall.




Im Ferienlager der ukrainischen Kinderhilfs-NGO Voices of Children im Karpatengebirge spielen die Kinder und sprechen sich aus, wenn sie wollen.




Veranstaltet wird das Ferienlager von der ukrainischen Kinderhilfs-NGO Voices of Children – bereits das zweite Jahr in Folge mit Unterstützung der Stiftung der First Lady Olena Zelenska. Zwei Wochen lang bekommen 56 Kinder zwischen zehn und 15 Jahren an der Grenze zu Rumänien Erholung vom Krieg und professionelle psychologische Hilfe.











Viktoriia Sakovska, eine Psychologin mit gleichsam fürsorglicher und strenger Miene, bietet an diesem Morgen Kunsttherapie an. Die Kinder sitzen gespannt um Holztische herum, während Viktoriia die Aufgabe erklärt. „Unsere Seele hat eine Blume in sich. Stellt euch diese Blume vor. Wie sieht sie aus?“, fragt sie. „Eine Tulpe“, antwortet ein Mädchen auf Russisch. Das ukrainische Wort kenne sie nicht, sagt sie dann. Auch wenn die Pädagogen als Vorbilder alle ukrainisch sprechen, gibt es hier, anders als im „Untergrund“, keine Sprachverbote. Man will den Kindern, die Schlimmes erlebt haben, nicht noch zusätzlichen Druck machen.








Dann wird die Stimme des Mädchens, es trägt ein „Hello Kitty“-Shirt und Armstulpen, plötzlich sehr ernst. Sie sei in Luhansk geboren, musste aber wegen des Kriegs 2014 nach Charkiw umziehen. „Wir nahmen den letzten Zug.“ 2022 ein erneuter Umzug, diesmal nach Dnipro. Sie könne aber noch ihre alte Schule in Charkiw besuchen, die wegen der andauernden Luftangriffe ohnehin online stattfindet. Bei einem Angriff in unmittelbarer Nähe seien die Fenster ihrer Wohnung zersprungen. Zum Glück habe sie sich in der Badewanne verstecken können.







„Wir sprechen nicht über die Zukunft“, sagt Viktoriia Sakovska, die Psychologin, kurz vor meiner Abreise. Höchstens, dass die Kinder von ihren Berufswünschen erzählten. Man wolle ihnen keine falschen Hoffnungen machen. Viktoriias Augen sind feucht.

Dann stellt sie mir eine Frage. Sie möchte wissen, was der Campbesuch in mir ausgelöst hat. Ich antworte, dass mir die Kinder leidtun, da sie der Krieg, selbst wenn er einmal vorbei ist, ein Leben lang begleiten wird.

Die Verluste, die Traumata, aber auch der Hass, die Rachegelüste, die Vorbereitung auf den Fronteinsatz. All das werden sie niemals vergessen.