Rücksicht in der Koalition: Merz’ Angst vor der Rente

7

Als Friedrich Merz Anlauf aufs Kanzleramt nahm, konnte er nicht ahnen, dass ihm eine verpatzte Richterwahl die Bilanz der ersten Regierungsmonate vermasseln würde. Eine Herausforderung, die er dagegen sehr genau kannte, waren die Sozialstaatsreformen, die ein alterndes Deutschland brauchen würde. Dennoch hat Merz ein Risiko stets gemieden: Weder im Wahlkampf noch danach wollte er die Deutschen mit harten Ansagen zu einer längeren Lebensarbeitszeit erschrecken.

Schon im August 2024 wies Merz Überlegungen zu einer Rente mit 70 zurück. Er verwies auf das CDU-Grundsatzprogramm, in dem stehe, dass „in der längeren Perspektive die Lebensarbeitszeit an die Lebenserwartung“ gekoppelt werden müsse. Er lehne jedoch ein starres, schematisches Renteneintrittsalter für alle Berufsgruppen ab. Parteifreundin Gitta Connemann, Vorsitzende der Mittelstandsunion, hatte die 70 ins Spiel gebracht.

Jetzt ist Merz Kanzler, regiert mit der SPD, und die Frage, wie lange und wie viel die Deutschen in einer alternden Gesellschaft arbeiten müssen, drängt mehr denn je. Da goss Wirtschaftsministerin Katherina Reiche, CDU, in einem F.A.Z.-Interview beherzt einen Eimer Öl ins sommerliche Koalitionsfeuer. Die Deutschen müssten länger arbeiten, forderte sie. Der Kanzler fand das gar nicht komisch, bedeutete Reiche, sie möge sich auf ihre Themen als Wirtschaftsministerin konzentrieren und forderte seine Parteifreunde an der CDU-Spitze dazu auf, Rücksicht auf die SPD zu nehmen.

Merz dankte der SPD für ihre Zurückhaltung

Zwar hat der Mann, der mit 69 Jahren erst in den anstrengendsten Teil seines Berufslebens gestartet ist und schon deswegen eine Rente mit 70 – persönlich – als Katastrophe empfinden müsste, nichts dagegen, über längere Arbeitszeiten zu reden. Immer wieder hat er das in der Vergangenheit getan, hat spöttisch über ein Zuviel an „Work-Life-Balance“ gesprochen und die Lust an der Arbeit gepriesen. Doch jetzt, da die Stimmung zwischen Union und SPD kurz nach dem Start ihrer Koalition schon so angespannt ist, ruft er die Ruhe zur ersten Koalitionspflicht aus. Merz soll sich sogar bei den Sozialdemokraten bedankt haben, dass diese zunächst nicht auf den Reiche-Vorschlag eingestiegen seien.

Die Freude des Kanzlers währte allerdings nicht lange. Denn als hätte die SPD nur auf ein solches Dankeschön gewartet, ging sie auf den Reiche-Vorstoß los. Und lehnte ihn rundheraus ab. Schließlich ist die Sicherung der Rente ein Lieblingsthema der Sozialdemokraten. Auch Ministerin Reiche geht es um die Sicherung des Rentensystems, nur eben über eine Reform, die Einschnitte mit sich brächte. Die SPD will hingegen so lange wie möglich an dem festhalten, was ist.

DSGVO Platzhalter

Den Anfang machte SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf, der auf der Titelseite der Juliausgabe der Parteizeitung „Vorwärts“ mit einer roten Fahne posiert wie ein Barrikadenkämpfer. Klüssendorf sagte, „eine Renteneintrittsaltersanhebung kommt für uns nicht infrage“. Es müsse stattdessen darum gehen, die Zahl der Einzahler ins Rentensystem zu erhöhen. Also vor allem Frauen den Aufstieg von der Teilzeit in die Vollzeit zu ermöglichen. Noch schwerer wog das Wort des Vizekanzlers und SPD-Vorsitzenden. Er unterstütze Reiche nicht, sagte Lars Klingbeil. Das Renteneintrittsalter dürfe nicht steigen.

Den Sozialdemokraten ist bewusst, dass die Union sich nicht nur jetzt, sondern auch in den vergangenen Jahrzehnten vor allzu konkreten Rentenreformen scheute. Die Formulierung aus dem CDU-Grundsatzprogramm, wonach die Arbeitszeit an die Lebenszeit angepasst werden müsste, schaffte es nicht ins Wahlprogramm. Rentenreformen machen Wählern Angst, das glaubt man nicht nur bei der SPD.

Der SPD reicht es

Aus der geteilten Einsicht, dass etwas am Renten- und Arbeitssystem verändert werden muss, und der gemeinsamen Angst davor – da könnte doch eigentlich etwas Verbindendes wachsen. So argumentieren sie vor allem in der CDU und sagen, das sei doch ein ursozialdemokratisches Thema, mit dem die SPD Wähler zurückgewinnen könne. Doch so ist die SPD gerade nicht drauf. Nicht nur beim Thema Arbeit und Rente nimmt sie die Union gerne ins Visier.

Symptomatisch dafür ist ein Vorfall der vergangenen Tage. Die SPD hatte eine Anzeige auf Social-Media-Plattformen veröffentlicht. Über die Anzeige sollte man sich für den Newsletter der Partei anmelden können. Brisant war aber der Text der Anzeige unter der Überschrift „Es reicht!“. Richterinnen würden diffamiert, Wahlhelferinnen bedroht, Abgeordnete eingeschüchtert. „Was wir erleben, ist keine Serie von Einzelfällen. Es ist eine gezielte Strategie: Rechte Netzwerke wollen die demokratischen Institutionen angreifen – von der Justiz über die Parlamente bis in die Mitte unserer Gesellschaft.“

Dann der entscheidende Satz, eine Frontalattacke gegen den Koalitionspartner: „Oft befeuert von der Union, die rechte Narrative übernimmt, statt sich klar abzugrenzen. Doch wir sagen: Nicht mit uns.“ Als Klingbeil auf die Anzeige angesprochen wurde, wirkte er überrascht, er kenne die Anzeige nicht, sagte er. Als man sich auch in der Union zu wundern begann, wurde der Bezug zur Union aus der Anzeige gestrichen. Da sei im Willy-Brandt-Haus jemand übers Ziel hinausgeschossen, heißt es zur Erklärung.

Die SPD mit Arbeitsministerin Bärbel Bas wird spätestens im Herbst für sich entscheiden müssen, wie sie das drängende Thema der Sozialreformen für sich begreift. Will sie Bewahrerin sein oder treibende Kraft? Will sie vielleicht sogar die Bürger überraschen? Bisher ist die Linie: ein bisschen sparen beim Bürgergeld, sonst aber Finger weg. Dabei hat die SPD in der Vergangenheit schon bewiesen, dass sie zum großen Wurf fähig ist. Weil sie es war, die die großen Sozialreformen auf den Weg gebracht hat.

So war es bei den Hartz-Reformen, so war es bei der Rente mit 67. Für deren Einführung war der damalige SPD-Arbeitsminister und Vizekanzler Franz Müntefering zuständig. 2006 war das. Von der reflexhaften Vorsicht der SPD im Jahr 2025 war bei ihm nichts zu spüren. Ohne mit seiner eigenen Partei vorab zu sprechen, verkündete Müntefering, dass er das höhere Renteneintrittsalter schneller erreichen wolle. In seiner Partei waren sie überrumpelt bis entsetzt. Sogar die damalige Kanzlerin Angela Merkel berichtet in ihren Erinnerungen, wie überrascht sie vom Tempo ihres Vizekanzlers gewesen sei. Aber Müntefering hatte beschlossen, als Regierungsmitglied zu handeln und nicht als Parteipolitiker. Nur ein SPD-Mann konnte das in der SPD durchdrücken.

Demographische Rechenaufgaben in der Volksschule Sauerland

Als sich Müntefering nun, inzwischen 85 Jahre alt, im „Tagesspiegel“ zu dem Vorstoß von Wirtschaftsministerin Reiche äußerte, klang das erst mal ablehnend. Zu pauschal seien deren Äußerungen. Aber schon im nächsten Atemzug sagte er Dinge, die sich sonst gerade niemand in der SPD zu sagen traut. Es sei doch kein Zufall, dass immer mehr Menschen über die gesetzliche Regelaltersgrenze hinaus arbeiten wollten. „Wir brauchen mehr Flexibilität als Antwort auf mehr individuelle Bedürfnisse.“ Eine Debatte über längeres Arbeiten lohne in jedem Fall. Oder wie Müntefering es einst selbst ausdrückte: Für manche demographische Rechenaufgaben reicht die Volksschule Sauerland.

Müntefering wird heute in der SPD gefeiert als Sozialdemokrat alten Schlags. Von seinen Positionen und seinem mitunter autoritären Stil wollen die Genossen aber nichts mehr wissen. In der CDU erinnern sie sich dagegen nur zu gerne an die alten Sozialdemokraten, die den Mumm hatten, den eigenen Leuten Reformen auf den Tisch zu schmettern nach dem Motto: Friss oder stirb!

Carsten Linnemann, CDU-Generalsekretär und für den Bereich Arbeit und Soziales zuständiger stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, sehnt sich heute nach dem anderen harten sozialdemokratischen Reformer neben Franz Müntefering. „Wir müssen begreifen, dass jetzt das Zeitfenster offen steht für Reformen“, sagte er der F.A.Z. Die Geschichte zeigt „leider“, dass notwendige Reformen in der Regel erst dann angegangen würden, wenn das Land „mit dem Rücken zur Wand“ stehe. Einen solchen Moment wie heute habe es zuletzt vor etwa zwanzig Jahren gegeben.

Zu jener Zeit habe Deutschland „mehr als fünf Millionen“ Arbeitslose gehabt, sagt der Mann, der gerne Arbeitsminister geworden wäre. Die Regierung habe damals mit der Agenda 2010 reagiert. „Gerhard Schröder war es, der unter der Überschrift ,Fördern und Fordern‘ eine strukturelle Arbeitsmarktreform umgesetzt hat. Das war mutig. Diesen Mut benötigen wir heute wieder.“ Wie hilfreich Merz und sein Klingbeil es finden, ausgerechnet Schröder als Vorbild hingestellt zu bekommen, sei dahingestellt.