Ramona liebt es, ihre Zeitkarte in der alten Stechuhr abzustempeln. Es macht so schön laut „klack“. Dienstbeginn! Ramona grinst. Während sie ihre Sicherheitsschuhe schnürt und sich ihre blaue Arbeitsweste mit dem Aufdruck „Die WegRäumenden – Wir packen’s an“ überstreift, summt sie ein fröhliches Liedchen. Die 35 Jahre alte Frau ist heroinsüchtig. Vorhin hat sie in einer Substitutionspraxis ihre Dosis bekommen. Deshalb ist sie gerade gut drauf. Die erste Hürde ist genommen, um durch den Tag zu kommen. Die zweite will Ramona als Teil ihres Teams in der Drogenhilfe meistern. Seit wann sie dabei ist? Ramona hält kurz inne, macht den Rücken gerade, sagt stolz: „Von Beginn an!“
Seit 2021 gibt es das Gemeinschaftsprojekt der Düsseldorfer Drogenhilfe, des Gesundheitsamts und des Jobcenters. Bis zu einem Dutzend Rauschgiftsüchtige ziehen montags bis freitags mit Handwagen, Mülltüten und Greifzangen los. Sie sind in Begleitung von Sozialarbeitern, vorwiegend in Hauptbahnhofsnähe unterwegs, um vor allem in den Hauseingängen die Hinterlassenschaften der Drogenszene wegzuräumen: Spritzen, Kanülen, Verpackungen, Flaschen und anderen Unrat. Bei der „Arbeitsgelegenheit“ nach Paragraph 16d Sozialgesetzbuch – so die amtliche Bezeichnung des Projekts – können sich Abhängige ein paar Euro dazuverdienen. „Vielleicht noch wichtiger ist, dass das Beschäftigungsprojekt ihrem Tag eine Struktur gibt“, sagt Michael Krott, der bei der Drogenhilfe für „Die WegRäumenden“ zuständig ist. Dabei hilft ihnen auch, so banal es klingt, die alte Stechuhr, die Krott auf Ebay ersteigert hat. „Die Menschen können für einige Stunden aus der Szene aussteigen, sich vom Beschaffungsdruck ablenken.“
Viele Substituierte sind zusätzlich von anderen Rauschmitteln abhängig, mittlerweile vor allem von Crack. So wie Ramona. „Nach einem Stein kommt der nächste und der übernächste und immer so weiter“, murmelt Ramona, als der kleine Trupp nach wenigen Dutzend Metern auf dem Worringer Platz mit dem Müllaufsammeln beginnt. Dem Platz, der bis vor Kurzem als Düsseldorfer Drogen-Hotspot galt. Mit den Steinen meint Ramona Crack. Aber niemand, der Crack raucht, sagt Crack. So schlecht ist der Ruf der Droge. Ramona spricht lieber von „Kokain“ von „Weißem“ oder eben von „Steinen“.
Crack, ein Rauschgift, das es in Hamburg, Berlin und vor allem in Frankfurt schon länger gibt, überrollt nun auch Städte wie Dortmund, Köln und Düsseldorf. Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie im Auftrag des nordrhein-westfälischen Gesundheitsministeriums ist Crack auch zwischen Rhein und Weser mittlerweile das am häufigsten konsumierte illegale Rauschgift. Jochen Schroeder arbeitet für die Obdachlosenhilfsorganisation „aXept“. Er ist Streetworker und trifft bei seinen morgendlichen „Aufweck-Runden“ mit dem Dienstfahrrad überall im Düsseldorfer Stadtgebiet auf Crack-Süchtige, die er von früher aus der Heroinszene kennt. „Heroin zu konsumieren, ist eine ziemlich lange Zeremonie“, sagt Schroeder. Eine Crack-Pfeife zu rauchen, dauere dagegen nur wenige Minuten. Crack ist eine Droge to go, ein schneller Kick für sieben bis zehn Euro pro „Stein“. Und weil der Suchtdruck so groß ist, schaffen es viele der Abhängigen nicht mal mehr in den Drogenkonsumraum.
Aus Dealer-Sicht sei Crack eine zynisch-geniale Sache, sagt Schroeder. „Deine Kunden brauchen die Droge alle halbe Stunde, gehen aber nicht gleich zugrunde und bringen dir also lange Geld.“ Dass Crack sich nun in den Drogenszenen in ganz Deutschland ausbreitet, erklärt sich der Sozialarbeiter mit der von südamerikanischen Syndikaten und ihren europäischen Mafiapartnern gesteuerten, immer heftigeren Kokainschwemme. Außerdem gebe es weniger Heroin, seit die Taliban in Afghanistan die Schlafmohnproduktion zumindest offiziell verboten haben.
Besteck für die Verarbeitung von Crack – unter Aufsicht und hygienischen Verhältnissen
Ein Verein ermöglicht Schwerstdrogenabhängigen einen begleiteten Drogenkonsum – im Konsumraum in Düsseldorf.
Der Konsumraum ist gläsern – so können Mitarbeiter die Situation überwachen.
Eine Mitarbeiterin bereitet Spritzen mit Kochsalzlösung für den späteren Gebrauch vor.
Crack wird hergestellt, indem Kokain mit Ammoniak oder Natron und Wasser aufgekocht wird. Die dabei entstehenden weißen „Steine“ knacken beim Rauchen in der Pfeife, daher der Name. Während Heroin beruhigend wirkt und Kokain nur aufputscht, schießt Crack die Konsumenten in eine andere Umlaufbahn. Umso tiefer ist der Absturz nach der Glücksexplosion, die nur wenige Minuten andauert. In immer kürzeren Abständen müssen die Konsumenten zur Pfeife greifen, einige bis zu dreißigmal am Tag. Crack bestimmt schon bald ihren kompletten Tagesablauf. Um sich bei einem Dealer die nächsten „Steine“ kaufen zu können, betteln die Süchtigen aggressiv oder stehlen, manche prostituieren sich. „Ich kenne einen Obdachlosen, der sich seine Crack-Sucht bisher mit Sammel-Flashs finanziert: Wie verrückt ist er auf der Suche nach Pfandflaschen, um Geld für die Crack-Menge der nächsten paar Tage zusammenzubekommen“, erzählt Schroeder.
Lange wird das nicht mehr gut gehen. Schon nach kurzer Zeit sind viele Crack-Junkies abgerissen, haltlos, verrichten ihre Notdurft auf offener Straße. Mal sind sie tagelang wach, mal fallen sie auf Parkbänken oder direkt auf dem Erdboden in komatösen Schlaf. Die psychische und körperliche Verelendung verläuft bei Crack im Zeitraffer. Viele Süchtige haben offene Wunden, um die sie sich nicht kümmern. „Der Verwesungsgeruch ist ein Alarmzeichen“, sagt Schroeder. Als er kürzlich mit seinem Lastenrad Frühstückspakete in den Schlafstellen auf Plätzen, in Hauseingängen und unter Brücken verteilte, traf er einen Klienten, den er vor drei Wochen endlich hatte überreden können, sich das Bein verbinden zu lassen. „Der Verband war mittlerweile eingewachsen. Er ließ sich trotzdem nicht überzeugen, mit mir ins Krankenhaus zu gehen.“
Wie Dortmund hatte auch Düsseldorf seine überwiegend von Heroinabhängigen geprägte Szene mit einem Drogenkonsumraum und Methadon für den medizinischen Ausstieg einigermaßen im Griff. Die Abhängigen waren gut erreichbar für weiterführende Hilfen der zahlreichen, eng verzahnt arbeitenden Initiativen und Einrichtungen. Doch für Crack gibt es bisher keinen Ersatzstoff. Konsumenten sind der Droge oft vollkommen ausgeliefert und kaum in der Lage, selbst einfache sozialarbeiterische Angebote anzunehmen. „Sie können keine Termine einhalten. Ich brauche oft zwanzig, dreißig Anläufe, um mit Crack-Konsumenten aufs Amt zu gehen, um einen neuen Ausweis oder eine Krankenversicherungskarte zu beantragen, damit sie wieder Leistungen beziehen können“, berichtet Schroeder.
Crack ändert alles, nicht nur für die Konsumenten. Ein ganzes Hilfssystem fährt in Deutschland gerade wegen Crack vor die Wand. Viele Städte ringen darum, Orte zu finden, an denen sich Süchtige aufhalten können und die Belästigung und die Gefahren für zunehmend genervte Anwohner, Gewerbetreibende und ihre Kunden so gut es geht einzudämmen. Das führt oft zu einem Wanderzirkus. Düsseldorf ließ Ende 2023 das „Grand Central“, eine Baugrube unweit des Hauptbahnhofs, räumen. Obdachlose hatten sich dort nicht nur eine Zeltstadt gebaut. Das „Grand Central“ war ein rechtsfreier Raum, mit eigenen Handelsstrukturen der Dealer, die schließlich sogar die Streetworker verjagten. Danach sammelte sich ein großer Teil der Szene auf dem Worringer Platz, um zu dealen und zu konsumieren. Als die Stadt dort die langen Bänke aus Glasbausteinen, die als Rauschgiftverstecke dienten, abreißen ließ, zogen die Menschen wenige Dutzend Meter weiter auf den Platz vor der Stadtbibliothek und der Filiale eines Lebensmitteldiscounters.
Den gröbsten Dreck hat die Stadtreinigung gerade beseitigt, aber gegenüber gibt es für Ramona und ihren Trupp schon wieder etwas aufzulesen: gebrauchte Spritzen, die mit der Greifzange in einem Sicherheitsbehälter auf den Handkarren befördert werden. „So ’ne Schweinerei gehört sich nicht!“, empört sich Ramona. Der Job bei den „WegRäumenden“ hilft ihr, nicht dauernd an „Steine“ zu denken. So gut es ist, dass sie eine eigene kleine Wohnung hat und Bibi, ihre Katze, für deren Futter Geld übrig bleiben muss, so sehr erschüttert es Ramona, wie viel sie am Ende jeden Monats doch wieder für Crack ausgegeben hat. „Steine sind ein Teufelszeug.“
Die „WegRäumenden“ sind auf dem Immermannhof angekommen. Dort hat die Stadtverwaltung zwei aufgeschnittene Überseecontainer und sechs Bau-Toiletten für Drogenabhängige und Obdachlose aufstellen lassen. Gerade wuchten Arbeiter der Stadtreinigung zwei große Müllkübel von ihrem Lastwagen. So dreht sich alles im Kreis. Denn bis der Immermannhof vor gut zehn Jahren für viel Geld saniert wurde, war er schon einmal Obdachlosentreffpunkt. Der Platz liegt mitten in der Stadt. Auch jetzt strömen die Passanten Richtung Hauptbahnhof. Erschrocken bleiben manche stehen, als sich plötzlich ein verwahrloster Mann auf dem Pflaster ausstreckt und mit dem Gesicht zum Himmel, die Arme von sich gestreckt, in komatösen Schlaf fällt.
Die Container auf dem Immermannhof werden auch nur eine Zwischenlösung sein. So bald wie möglich soll im Hinterhof der Drogenhilfe eine Aufenthaltsfläche hergerichtet werden. Drogenkranke sollen einen festen Ort haben, um die Wartezeit zu überbrücken, bis ein Platz im Drogenkonsumraum frei ist. Michael Harbaum, der Geschäftsführer der Drogenhilfe, sieht darin eine „Riesenchance“. Zum einen könne man den öffentlichen Raum entlasten, zum anderen vielleicht 50 bis 80 Suchtkranken am Tag mehr helfen. Durch intensive, niederschwellig einsetzende Einzelfallarbeit könnte es gelingen, die eine oder den anderen aus der Szene zu holen. „Und zwar in dem Moment, wenn die Person bereit und in der Lage dazu ist einzuschlagen.“
Auf die meisten, die den Weg zur Drogenhilfe finden, trifft das nicht zu. Sie wollen dort nicht ins Café „Kontaktladen“, wo es etwas zu essen und zu trinken gibt und immer ein Sozialarbeiter für alle Fragen und Nöte ansprechbar ist, geschweige denn sind sie dazu zu motivieren, bei den „WegRäumenden“ mitzumachen. Sie wollen in den Drogenkonsumraum. „Man muss akzeptieren, dass sich oft nicht viel verändern lässt“, sagt Celina, die mit drei Kollegen in einem mit Glasscheiben abgetrennten Empfang mit Bildschirmen Dienst hat. Von hier aus überwachen Sozialarbeiter und Rettungsdienstmitarbeiter die 17 Tische, an denen sich Süchtige Heroin in ihre Vene spritzen oder Crack rauchen. Der Raum ist gekachelt wie ein Labor und taghell mit Neonlicht ausgeleuchtet. Alle Wände sind verspiegelt, damit Celina und ihre Kollegen alles sehen und sofort einschreiten und den Rettungsdienst rufen können, wenn jemand kollabiert. Oder wenn unter den Tischen Drogen gehandelt werden, was streng verboten ist. Über Lautsprecher erinnern sie die Konsumenten daran, wenn ihre Zeit bald vorbei ist. Einer der Sozialarbeiter zieht das Mikrofon zu sich her: „Ahmed, noch fünf Minuten!“
Zutritt hat nur, wer eine Aufnahmebefragung mitgemacht hat, registriert ist und jedes Mal seine Drogenportion vorzeigt. Der öffentliche Konsum von illegalen Drogen ist verboten. Als Ausnahme nennt das Gesetz Drogenkonsumräume, die es in acht der sechszehn Bundesländer gibt. Drogenkonsumräume sollen Gesundheitsgefahren für Schwerstabhängige reduzieren und ihr Überleben sichern. „Safer use“, heißt das Konzept – zu dem auch zählt, dass die Junkies an einer Theke saubere Spritzen, Abbindebänder oder Pfännchen und Natron zum Aufkochen von Kokain oder Crack-Pfeifen erwerben können.
Auch Ramona sammelt Müll ein.
Celina und ihre Kollegen haben viel zu tun. Wird ein Platz frei, steht schon der nächste Konsument am Fenster. Eine gepflegte Frau mittleren Alters, die auch von einem Business-Meeting gekommen sein könnte, will sich Heroin spritzen. Sie ist in vielfacher Hinsicht die Ausnahme: Die meisten Süchtigen sind männlich, heruntergekommen und konsumieren Crack. So wie Peter. Er ist 67, sieht aber aus wie 80. Zum dritten Mal schon rollt er an diesem Tag mit seinem Rollstuhl heran. „Ich rauch jetzt meinen speziellen braun-weißen Cocktail“, verkündet Peter und zeigt zwei Portionen: braunes Heroinpulver und weißes Crack. „Weiß“ mache ihn fertig. Vor einem Jahr habe er wieder damit angefangen. „Dreißig bis vierzig Pfeifen brauch ich am Tag.“
Ramona und die anderen „WegRäumenden“ kommen auf dem Rückweg zur Drogenhilfe wieder am Worringer Platz vorbei. Wieder gibt es reichlich Müll aufzusammeln. Wenige Meter entfernt sitzt eine Gruppe Junkies am Boden, eine verwahrloste junge Frau zieht an ihrer Crack-Pfeife. Auch am Worringer Platz sind die Suchtkranken zurück.