Zensur auf Google: Schlechte Bewertungen unerwünscht

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Es sollte ein gemütlicher Abend werden. Gemeinsam mit Freunden wollte Levin Geyer im Hamburger Schanzenviertel Pizza essen und plaudern. Die Realität aber war eine andere. Das Vitello tonnato, ihre Vorspeise, schmeckte nicht. Die Thunfischcreme enthielt Klumpen, die Kapern waren wässrig. Nach 1,5 Stunden Wartezeit war die Pizza noch immer nicht am Tisch, woraufhin die Freundesgruppe ihre Bestellung stornierte und das Lokal verließ. Aus Frust und um andere zu warnen, schilderte Levin Geyer seine Erlebnisse in ei­ner Bewertung auf Google. „Eine enttäuschende Erfahrung“, schreibt er, dazu ein ausführlicher Bericht. Einen Stern vergibt er. „Ich hoffe, der Laden kriegt seine Probleme in den Griff.“

Zahlreiche Aufrufe hatte die Bewertung, sagt der 32-Jährige. Dann aber kam eine Mail von Google. Es wurde Beschwerde von der Pizzeria eingelegt, die Bewertung vorerst entfernt. Der Vorwurf: Diffamierung. So wie Levin Geyer ergeht es mittlerweile vielen Verfassern von Erfahrungsberichten im Internet. In den sozialen Medien häufen sich Schil­derungen von Kunden, die eine ähnliche Mail von Google erhalten haben. Der Wortlaut ist immer derselbe, der Vorwurf lautet mal Diffamierung, mal Verleumdung. Dabei hatten die Kunden lediglich ehrlich ihre schlechten Erfahrungen mit dem Restaurant, dem Café, dem Arzt oder der Werkstatt geschildert, beklagen sie.

Dass Anbieter keine Freude an schlechten Bewertungen haben, überrascht nicht. Immerhin ist die Anzahl der Sterne auf Google für viele Menschen zum zentralen Entscheidungskriterium bei der Auswahl geworden: Schmecken die Zimtschnecken im Café? Ist der Au­tomechaniker kompetent? Sorgt sich der Arzt ausreichend um seine Patienten? Über all diese Fragen sollen die Erfahrungsberichte Auskunft geben. Sind diese nicht gut, führt das dazu, dass potentielle Kunden das Lokal meiden.

Auch berechtigte Kritik wird offenbar entfernt

Um die Anbieter vor ungerechtfertigter Kritik oder Lügen zu schützen, hat Google einen Mechanismus eingeführt, mit dessen Hilfe sie Bewertungen als rufschädigend melden können. Der Hintergrund ist simpel: Teils gehen Bewertungen tatsächlich über die freie Meinungsäußerung hinaus. Manchmal dürften die Verfasser das Lokal nicht einmal besucht haben, schließlich kann jeder eine Bewertung auf Google abgeben. Auch den Ruf der Konkurrenz zu ruinieren, ist dadurch möglich. Den Verfassern von Erfahrungsberichten kommt eine enorme Macht zu, die über den Erfolg oder das Scheitern eines Lokals entscheiden kann. Ein Berliner Wirt beispielsweise berichtet, dass jeder Einzelne einer Gästegruppe ihm nur einen Stern gegeben habe, weil der Wirt angeblich die Reservierung vergessen habe. Dabei lag der Fehler bei den Gästen.

„Man kann für schlechte Bewertungen durchaus belangt werden, wenn man pöbelt“, sagt der auf IT-Recht spezialisierte Rechtsanwalt Niko Härting. Im deutschen Recht werden solche Ausfällig­keiten als Schmähkritik bezeichnet. „Dann kann der Restaurantbetreiber verlangen, dass man die Bewertung löscht. Und Google muss löschen, wenn sie Stellungnahmen eingeholt haben und zur Überzeugung gelangen, dass es tatsächlich eine Falschbehauptung oder Schmähkritik ist.“ Im Jahr 2024 hat Google weltweit mehr als 240 Millionen Rezensionen blockiert oder entfernt.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Doch vielfach gibt es auch berechtigte Kritik, und auch die wird offenbar entfernt. Die F.A.S. hat mehr als ein Dutzend gelöschter Bewertungen gesammelt. Die Kunden haben drei Sterne oder weniger vergeben und das aus­führlich begründet. Da sind etwa die Chicken Nuggets, die innen noch roh waren, Foto inklusive. Eine schlechte Beratung beim Fahrradkauf und ein überhöhter Preis. Ein verpatztes Date am Valentinstag mit „zerkochten“ Steaks und einem unfreundlichen Service. „Wir kamen mit der Erwartung eines netten Essens in einer einladenden Umgebung, aber stattdessen fühlten sich mein Partner und ich unwohl und unerwünscht“, so die Kritik des Gasts. Weder wurden grobe Schimpf­wörter in den betrachteten Bewertungen verwendet noch einzelne Personen persönlich beleidigt – und trotzdem wurden sie vom Restaurant gemeldet und von Google entfernt.

Ist es also schon Schmähkritik, wenn ein Nutzer zwei Sterne vergibt, weil „die Ente nach Kanton-Art langweilig“ geschmeckt hat? „Das ist natürlich Quatsch“, sagt Rechtsanwalt Härting. Er verstehe überhaupt nicht, warum man so etwas lösche. „Das ist eine reine Wertung. Dass ich sage, dass mir das Essen nicht geschmeckt hat, kann mir keiner verbieten.“ Man müsse sich aber bewusst sein: „Für Google ist das alles Massen­geschäft.“ Man dürfe nicht erwarten, dass die Plattformen sich viel Zeit nähmen, um die Bewertungen zu begut­achten.

Diffamierung ist gar kein Rechtsbegriff

Die Restaurantbetreiber wiederum holen sich inzwischen Hilfe, um ihre Sterne aufzupolieren. So gibt es Anwaltskanz­leien, die jeden Fall einzeln prüfen. Und es gibt sogenannte Löschagenturen, wie sie in der Branche bezeichnet werden. Dahinter steckt ein ausgeklügeltes Geschäftsmodell. Diese Anbieter haben sich darauf spezialisiert, für ihre Kunden – etwa Restaurants, Ärzte oder Geschäfte – die schlechten Bewertungen zu melden. Diese Agenturen werben aktiv per Mail um Kunden und versprechen ihnen, ge­gen Bezahlung gegen die schlechten Erfahrungsberichte vorzugehen. Ab zehn Euro pro gelöschter Bewertung soll das möglich sein. Innerhalb von zwei bis vier Wochen werde der Beitrag entfernt, die Erfolgsquote liege bei 80 bis 90 Prozent, heißt es etwa auf der Website eines Anbieter.

Kurioserweise ist der Vorwurf, den Google den Nutzern macht, Diffamierung, überhaupt kein Rechtsbegriff in Deutschland. Rechtsanwalt Härting vermutet, dass Google hier einfach aus dem Englischen übersetzt. „Da weiß man auch nicht so richtig, was damit gemeint ist.“ Dass Google im Zweifelsfall lieber löscht als eine Rezension stehen zu lassen, mag auch mit der zunehmenden Regulierung zu tun haben. „Da ist viel Druck auf die Plattformbetreiber, gegen unliebsame Inhalte wie Hassrede und Fake News vorzugehen“, merkt Härting an. Das habe mit dem deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetz aus dem Jahr 2017 begonnen und setze sich nun mit dem europäischen Gesetz für digitale Dienste fort. Für die Plattformen wie Google entsteht so ein Anreizproblem. Sie haben wenig zu verlieren, wenn sie einen Eintrag löschen, aber können für die Inhalte, die sie stehen lassen, zur Verantwortung gezogen werden. Als Anwalt, sagt Härting, würde man Google in dieser Situation immer das Löschen empfehlen.

Wird einem Verfasser Diffamierung vorgeworfen, ist die Bewertung vorerst nicht mehr sichtbar. Für den Verfasser gibt es die Möglichkeit, innerhalb von sechs Monaten Einspruch über ein Onlineformular zu erheben und die schlechte Bewertung ausführlich zu begründen. Dazu zählen beispielsweise das Datum und die Uhrzeit des Besuchs, Rechnungen oder andere Nachweise. Die sollen dazu dienen, die Seriosität des Besuchs nachzuweisen, heißt es in dem Schreiben von Google. So weit die Theorie. In der Praxis allerdings dürften die wenigsten Menschen den Kassenzettel aufheben, besonders wenn der Besuch schon einige Monate oder gar Jahre zurückliegt. Auch bedarf es einer gewissen Ausdauer, sich gegen den Vorwurf zu wehren und Einspruch zu erheben. Vielen Verfassern von Bewertungen ist das zu mühsam, und sie nehmen die Entfernung zähneknirschend hin. Darauf dürften die Löschagenturen setzen und einfach pauschal alle schlechten Bewertungen melden, in der Hoffnung, dass sich nur wenige Verfasser dagegen wehren.

„Dann geht der Sinn von Bewertungen verloren.“

Auch in den Fällen, die der F.A.S. vorliegen, haben einige Kunden an dieser Stelle aufgegeben. Andere wiederum wollten das Löschen nicht einfach so hinnehmen. Der Hamburger Levin Geyer etwa sagt, er sorge sich, dass im Internet immer mehr falsche Bewertungen kursieren und schlechte gar nicht mehr veröffentlicht werden. „Dann geht ja der Sinn von Bewertungen verloren.“

Tatsächlich wirft das Vorgehen die Frage auf, inwiefern Kunden darauf überhaupt noch auf die Anzahl der Sterne vertrauen können. „Bewertungen sind mittlerweile sehr mit Vorsicht zu genießen“, sagt Oliver Buttler von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg. Google selbst wiederum betont auf eine Anfrage, dass die überwiegende Mehrheit der Rezensionen zuverlässig und hilfreich sei. „Unsere Richtlinien besagen eindeutig, dass Rezensionen auf echten Erfahrungen be­ruhen müssen, weshalb wir umgehend ge­gen böswillige Akteure vorgehen, indem wir Inhalte, die gegen die Richt­linien verstoßen, entfernen sowie gegebenenfalls Konten sperren und recht­liche Schritte einleiten.“ Viele Fragen, die die F.A.S. Google zu dem Vorgehen gestellt hat, ließ das Unternehmen allerdings unbeantwortet.

Verbraucherschützer Buttler rät Kunden dazu, sich nicht nur auf die Sterne zu verlassen, sondern vor dem Besuch gezielt nach negativen Bewertungen zu suchen und sich auf mehreren Plattformen zu informieren. Auch wenn das mühsam ist. Im sozialen Netzwerk Reddit gibt es mittlerweile sogar eigene Beiträge, in denen die Namen von Lokalen gesammelt werden, die offenbar ihre schlechten Bewertungen löschen lassen. Manche wiederum teilen ihre Erfahrung, wie sie Einspruch eingelegt haben. Levin Geyer war bisher allerdings nicht erfolgreich. Er ärgert sich, dass er den Rechnungsbeleg von damals nicht aufgehoben hat. Auch auf eine Anfrage der F.A.S. wollte sich die Hamburger Pizzeria Jill, die er in seiner Bewertung kritisiert hat, nicht äußern.

Bei anderen wiederum hat der Einspruch funktioniert, etwa bei der 29-jährigen Rahel Krauskopf. Sie hat sich über ein Café in Berlin beschwert. Ihre Kritik: Die Flasche Rhabarberschorle beinhaltete nur 200 Milliliter, in der Getränkekarte wurden ihr aber 250 Milliliter versprochen. Für manche mag es wie eine Kleinigkeit wirken, Krauskopf aber wollte ih­re Enttäuschung kundtun und hinterließ eine schlechte Bewertung. „Obacht, Etikettenschwindel. Hier wird die Inflation durch die Hintertür weitergereicht“, schrieb sie, dazu ein Bild der Karte und des Getränks. Bis vor wenigen Wochen war die Bewertung für alle einsehbar, dann hat Google diese entfernt. Es folgte ein langes Hin und Her. Ihr Durchhaltevermögen hat sich gelohnt, Google hat ihre Argumente akzeptiert. Seit ein paar Tagen ist die Bewertung wieder online.