KI liest die Gedanken des Menschen und entziffert die Sprache von Tieren

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Künstliche Intelligenz ist viel mehr als ChatGPT und schöne Bilder: Innovative Modelle verändern unsere Welt gerade auf tiefgreifende Weise. Doch wie sie das genau machen, das weiss niemand.

Der mit dem Walhai spricht: KI hilft dabei, Laute von Tieren zu analysieren und zu entschlüsseln.

Der mit dem Walhai spricht: KI hilft dabei, Laute von Tieren zu analysieren und zu entschlüsseln.

Stuart Hablutzel / Getty

Im vergangenen Oktober erreichte Demis Hassabis ein Anruf aus Stockholm, der sein Leben verändern sollte. Mit erst 48 Jahren wurde ihm mitgeteilt, dass er – gemeinsam mit John Jumper und David Baker – den Nobelpreis in Chemie erhalten würde. Hassabis hatte dafür kein einziges Mal in einem Chemielabor gestanden.

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Der Softwareentwickler hatte eines der grössten Rätsel der Biologie mit dem KI-Programm Alphafold am Computerbildschirm gelöst: die Faltung von Proteinen. Diese elementaren Bausteine des Lebens entstehen als Fäden und erlangen ihre Funktion erst in ihrer gefalteten, dreidimensionalen Struktur. Nach welchen Gesetzmässigkeiten dies geschieht, darüber rätselte man seit Jahrzehnten.

Der Nobelpreis für die Entschlüsselung der Proteinfaltung ist nur ein Beispiel dafür, wie KI die Grenzen unseres Verständnisses verschiebt und uns neue Sprachen zugänglich macht. Dabei handelt es sich nicht nur um geschriebene Worte wie bei Chat-GPT.

Die Natur spricht in vielen Sprachen: Die Biologie nutzt als Wortschatz die Bausteine der DNA und der Proteine, die Chemie beschreibt die Bindungen der Elemente, und die Mathematik bietet ein formales Gerüst, um physikalische Gesetze zu beschreiben. Karten wiederum destillieren die Geografie in Grafiken und Symbole. Mit Datensätzen aus diesen und vielen weiteren Bereichen werden KI zurzeit trainiert, und sie stossen dabei stets auf neue, bisher unbekannte Muster.

Neue Materialien und digitale Archäologen

Die Entdeckung und Synthese neuer Materialien beispielsweise ist ein mühseliger Prozess von Versuch und Irrtum, doch im vergangenen Jahr kündigte sich eine dramatische Beschleunigung an. Autonome Labore begannen, Robotik mit KI zu kombinieren, um eigenständig Materialrezepte zu entwickeln, Substanzen zu synthetisieren und Produkte zu analysieren – alles praktisch ohne menschliches Zutun.

So identifizierten Forschende gleich 380 000 neue stabile Kristallstrukturen. Sie hoffen, dass diese Kombination aus generativer KI und Automatisierung die Entwicklung von Materialien für neue Energietechnologien, Kunststoffe oder Arzneimittel vorantreibt.

Eine andere Disziplin, die die KI buchstäblich neu kartiert, ist die Archäologie. Hier vermag sie die oft fragmentierten und schwer zugänglichen Sprachen der Vergangenheit immer besser zu entschlüsseln. Prominente Beispiele sind die antiken Schriftrollen vom Toten Meer oder die Herculaneum-Schriftrollen, die durch den Ausbruch des Vesuvs konserviert worden sind.

Softwareentwickler Demis Hassabis bekam 2024 den Nobelpreis für Chemie dank seiner Entschlüsselung der Proteinfaltung mithilfe von KI.

Softwareentwickler Demis Hassabis bekam 2024 den Nobelpreis für Chemie dank seiner Entschlüsselung der Proteinfaltung mithilfe von KI.

Benoit Tessier / Reuters

Wo Menschen an ihre Grenzen stossen, weil die alten Texte zu brüchig oder die Buchstaben verblasst sind, kann die KI Muster in multispektralen Aufnahmen erkennen oder virtuelle Entrollungen vornehmen. Auch in der archäologischen Landschaftsforschung erweist sich KI als Helferlein. Mit neuen Lasertechnologien durchdrangen Forschende die dichte Vegetation im antiken Campeche in Mexiko. Ein KI-Modell suchte in den Daten nach Mustern und fand Hunderte bisher unbekannte Maya-Stätten.

Die Fähigkeiten der KI-Modelle lassen Forschende sogar den alten Traum träumen, wie Franz von Assisi die Sprache der Tiere zu verstehen. Vorhaben wie das Earth Species Project widmen sich der Aufgabe, die Kommunikationssysteme unserer Mitgeschöpfe zu entschlüsseln.

Sie analysieren bioakustische Daten mit KI und stossen dabei auf erstaunliche Muster. So gibt es Hinweise, dass Elefanten individuelle «Namen» verwenden, um sich gegenseitig anzusprechen, oder dass Wale mit spezifischen Lauten, vergleichbar einem menschlichen «Hallo», auf Rufe von Artgenossen reagieren.

Der vielleicht tiefgreifendste Schritt bei der Entschlüsselung verborgener Sprachen ist jener, der uns selbst betrifft: die Fähigkeit, die Muster unseres eigenen Gehirns zu lesen. So wurde kürzlich dank Gehirn-Computer-Schnittstellen die Sprache eines Mannes direkt aus seiner neuronalen Aktivität synthetisiert und ihm so seine Stimme zurückgegeben, die er nach einer Hirnerkrankung verloren hatte.

Die Forschenden implantierten 256 Elektroden in seinen Motorkortex und trainierten eine KI darauf, die Sprechabsichten aus den Gehirnsignalen des Mannes herauszulesen. Die KI transkribierte daraufhin in Echtzeit, was der Mann ausschliesslich in Gedanken formulierte.

Denkende Zahlen

Manche Experten mutmassen sogar, dass KI für die Kommunikation untereinander bald auf ganz neue Sprachen zurückgreifen könnten. Chatbots kommunizieren zurzeit auf Englisch, Deutsch oder in anderen menschlichen Sprachen. Die besten unter ihnen generieren interne Gedankenketten (sogenannte «chains of thought»), die uns erlauben, ihnen beim Denken zuzusehen.

Die endgültigen Antworten lassen sich zwar nicht immer aus diesen gedanklichen Zwischenschritten herleiten, aber sie liefern Hinweise darauf, was im Inneren der Modelle vor sich geht. Die willkommene Transparenz könnte jedoch bald ein Ende haben.

Forschende bei Meta entwickelten vergangenen Dezember ein Modell, das die interne Gedankenkette nicht mehr in Worten ausgab, sondern in der angestammten Sprache dieser Modelle beliess: in Zahlen. Anstatt in Sätzen zu denken, produzierte das Modell Zahlenreihen, die die jüngsten Muster seines neuronalen Netzwerks repräsentierten, gewissermassen also dessen internes Denkwerk.

Die Zahlenreihen konnten viel mehr Informationen fassen als die menschliche Sprache und enthielten mehrere potenzielle Denkrichtungen gleichzeitig. Bei einigen Aufgaben zur logischen Argumentation waren diese Modelle jenen überlegen, die in natürlicher Sprache «dachten». Für den Menschen waren diese zahlenbasierten Gedankenschritte vollkommen undurchschaubar. Für andere KI hingegen wären sie womöglich ein offenes Buch.

Das Aufkommen der KI lässt sich demnach mit der Entwicklung eines mächtigen, neuen Teleskops vergleichen, das uns tiefer in die Natur blicken lässt. Alles, was in Datenpakete zerlegt werden kann, wird den Maschinen gefüttert.

Bei der KI geht es also um weit mehr als um die Generierung hübscher Bilder oder schöner Sätze. Sie setzt Forschenden eine neue Brille auf, die ihnen die Sicht auf bisher ungesehene Realitäten ermöglicht. Sie transformiert die Wissenschaft in ihren fundamentalsten Prozessen – nicht nur in den Büros der Angestellten.

Im Inneren der KI

Die Fähigkeit der KI-Modelle, neue und uns bisher verborgene Alphabete und Sprachen zu entschlüsseln, liegt in ihrer einzigartigen Lernmethode. Durch die Verarbeitung riesiger Datenmengen, oft in iterativen Schleifen, passt sie ihre internen Parameter immer wieder an, bis sie selbst die subtilsten und komplexesten Regelmässigkeiten erkennt.

Doch genau hierin liegt auch eine Herausforderung: Während die KI neue Regeln und Muster entdeckt, sind diese Erkenntnisse oft in einer multidimensionalen Kombination von Parametern gefangen, die uns Menschen für das Verständnis gar nicht weiterhilft.

Es gibt im Inneren der KI keine elegante mathematische Formel, kein Flussdiagramm und kein Regelwerk, die wir herausnehmen, studieren und verstehen könnten – es gibt nur Milliarden von Verbindungen zwischen Milliarden von künstlichen Neuronen, die auf Kommando aktiviert werden und einen Output generieren. Nach welchen Regeln sie das tun, weiss nur die KI selbst. Forschende weltweit bemühen sich, die «Black Box» namens künstliche Intelligenz aufzubrechen und interpretierbar zu machen, doch die bisherigen Erfolge sind bescheiden.

Mit anderen Worten: Wir erhofften uns Verständnis, stattdessen erhalten wir Resultate. Im Fall von Hassabis’ Alphafold liefert die KI also korrekte Proteinstrukturen, doch die Behauptung, das grosse biologische Rätsel sei damit gelöst, übersieht eine wesentliche Lücke: Weder die KI selbst noch ihr Schöpfer Hassabis können uns erklären, wie die Proteinfaltung tatsächlich funktioniert.