Journalisten sollen nicht tote Kinder interviewen

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Dass Eltern alles tun, um die Erinnerung an ein getötetes Kind so lebendig wie möglich zu halten, ist nachvollziehbar. Doch der Verstorbene hat ein Recht darauf, authentisch repräsentiert zu werden. Über die feine Grenze zwischen würdevoller Erinnerung und instrumentalisierter Deutungsmacht.

Angehörige der Opfer des Parkland-Attentats erinnern sich am fünften Jahrestag der Tragödie an die erschossenen Schüler. Bildmitte: Die Cousine von Joaquin Oliver und ihr Kind. 14. Februar 2023, Parkland, Florida, USA.

Angehörige der Opfer des Parkland-Attentats erinnern sich am fünften Jahrestag der Tragödie an die erschossenen Schüler. Bildmitte: Die Cousine von Joaquin Oliver und ihr Kind. 14. Februar 2023, Parkland, Florida, USA.

Saul Martinez / Getty

Anfang August wäre Joaquin Oliver 25 Jahre alt geworden. Doch das blieb ihm verwehrt. Er wurde als 17-Jähriger in seiner Schule in Parkland, Florida, von einem älteren Jugendlichen erschossen. Die Tragödie war das bisher blutigste Massaker mit Schusswaffen an einer amerikanischen Highschool. Es starben 17 Menschen.

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Joaquins Eltern tun seither alles, um die Erinnerung an ihr Kind so lebendig wie möglich zu halten. Ihre Trauer kanalisieren sie in den politischen Kampf für strengere Waffengesetze. Anfang August trat der Vater in der Sendung des ehemaligen CNN-Journalisten Jim Acosta auf und brachte einen KI-Avatar seines verstorbenen Sohns mit, also eine mit KI fabrizierte digitale Repräsentation mit dem Gesicht und der Stimme von Joaquin.

Acosta interviewt in der Sendung den Avatar. Dabei sagt der Journalist zwar einleitend, dass es sich um eine KI-Version von Joaquin handle, verpasst es aber, das Gespräch kritisch zu reflektieren und das Gesagte mit professionellem Abstand einzuordnen.

Der KI-Avatar sagt im Gespräch: «Ich wurde zu früh aus dieser Welt gerissen, wegen Waffengewalt, als ich in der Schule war.» Danach fordert er strengere Waffengesetze und eine «Kultur der Freundlichkeit und des Verständnisses».

Die «Jim Acosta Show» mit dem KI-Avatar von Joaquin Oliver.

Es ist nicht das erste Mal, dass ein KI-Avatar von Joaquin für eine politische Kampagne verwendet wird. 2020 publizierten seine Eltern ein emotionales Video mit einem Wahlaufruf. Weiter wurde seine Stimme letztes Jahr für Lobbying-Telefonanrufe verwendet.

Mit dem Avatar-Interview in der Acosta-Show hat die Kampagne um den erschossenen Schüler nun aber einen Tiefpunkt erreicht. Das Video verletzt aus mehreren Gründen Joaquins Würde. Zum einen haben alle Menschen ein Recht am eigenen Wort. Jeder darf selbst entscheiden, was er sagt. Und Menschen wie Joaquin dürfen grundsätzlich auch darüber entscheiden, ob und wie sie in der Öffentlichkeit dargestellt werden.

Zwar werden in der Rechtsprechung diese Persönlichkeitsrechte mit dem Tod eingeschränkt. Dennoch ist es bedauerlich, dass die KI dem toten Joaquin Dinge in den Mund legt, die er womöglich nie so gesagt hätte.

Es ist bereits problematisch, Hinterbliebenen die Deutungsmacht über die angebliche Meinung von Toten zu überlassen. Wie viele Male drehen sich Witwen und Waisen, die den Toten gut kannten, kopfschüttelnd ab, wenn entfernte Bekannte sagen: «Er hätte dies oder jenes schön gefunden» oder «Jetzt hätte er bestimmt dies oder das gesagt»?

Was aber passiert, wenn eine KI die Deutungsmacht über einen Toten übernimmt, zeigt die Acosta-Show: Der KI-Avatar spricht in vier Minuten des fünfminütigen Interviews über «Star Wars» und Basketball. Damit bekommen Belanglosigkeiten mehr Sendezeit als die Hintergründe von Joaquins Tod. Das ist absurd.

Die Eltern von Joaquin Oliver an einer Veranstaltung gegen Waffengewalt, 11. Juni 2022, Washington (DC), USA.

Die Eltern von Joaquin Oliver an einer Veranstaltung gegen Waffengewalt, 11. Juni 2022, Washington (DC), USA.

Tasos Katopodis / Getty

Dazu kommt noch etwas anderes: Indem die Eltern Joaquins KI-Avatar für ihren politischen Kampf verwenden, weisen sie dem Verstorbenen eine Rolle in der Öffentlichkeit zu, von der nicht klar ist, ob er ihr je zugestimmt hätte. Niemand wird erfahren, für welches Leben sich Joaquin entschieden hätte.

Vielleicht wäre er sogar aufs Land gezogen, hätte sich eine Schusswaffe gekauft und hätte sie unter seine Matratze gelegt. Immerhin besitzen in den USA rund 30 Prozent aller Menschen eine Schusswaffe. Gerade getöteten Minderjährigen sollte zugestanden werden, dass sie sich weiterentwickelt hätten – aus Respekt vor ihrem Leben, in dem sie so vieler Möglichkeiten beraubt wurden.

Das Recht darauf, authentisch erinnert zu werden

Nun verzerrt der KI-Avatar das Bild des echten Joaquin, wie ihn seine Freunde und Mitschüler kannten. Der KI-Joaquin, dessen Stimme im Video zeitweise viel zu hoch spricht, der viele Floskeln verwendet und dem Interviewer unangebrachte Rückfragen stellt, wird bei manchen wohl das Bild von dem Joaquin überlagern, der er wirklich war. Das nimmt ihm das Recht darauf, authentisch erinnert zu werden.

Es ist nur menschlich, dass Eltern, die um ihr Kind trauern, zu allen möglichen Mitteln greifen. Das grössere Problem des Falles liegt deshalb bei Acosta. Einen KI-Avatar zu interviewen und danach zu sagen, es habe sich so angefühlt, als habe er den echten Menschen kennengelernt, ist ein unsägliches Verhalten für einen Journalisten. Es entspricht etwa der Idee, einen Nachruf auf einen Verstorbenen zu schreiben und ihm dann frei erfundene Zitate anzudichten.

In einer Welt, die daran krankt, dass man an der Echtheit eines jeden Textes, eines jeden Bildes und einer jeden Audio-Datei zweifeln muss, begeht Acosta damit einen journalistischen Tabubruch.