Soziale Medien: Forscher fordern strengere Regeln für Jugendliche

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Wissenschaftler aus mehreren Disziplinen warnen vor möglichen irreversiblen Schäden an der Psyche von Kindern und Jugendlichen durch soziale Medien und fordern auf Basis des Vorsorgeprinzips eine strengere Regulierung. Plattformen wie Tiktok, Instagram und Telegram sollen Altersgrenzen durchsetzen, bestimmte Funktionen wie personalisierte Werbung für Jugendliche abstellen und suchtähnliches Verhalten begrenzen, heißt es in einem Diskussionspapier der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, das heute veröffentlicht wurde. Begründet werden diese Forderungen damit, dass der direkte Ursache‑Wirkung‑Nachweis zwischen Social‑Media‑Nutzung und psychischen Problemen zwar noch unklar sei, die vorliegenden Hinweise jedoch Schutzmaßnahmen rechtfertigten.

Die Autorengruppe senkt damit die Schwelle für politisches Handeln. Neben den Forschern verlangen derzeit auch Politiker vermehrt einen stärkeren Schutz von Jugendlichen. Gestern sprach sich der thüringische Ministerpräsident Mario Voigt (CDU) in der F.A.Z. für „digitale Schutzräume“ aus und schlug Regeln vor wie etwa: kein Smartphone vor 14 Jahren und keine sozialen Medien vor 16. Der ehemalige Bildungsminister Cem Özdemir (Grüne) pochte Anfang der Woche auf ein Verbot von Social Media für Jugendliche unter 16 Jahren.

Die Autoren des Papiers schlagen nun eine Doppelstrategie vor: Ziel sei es, Risiken zu reduzieren und zugleich digitale Teilhabe zu sichern. Denn neben Hinweisen auf schädliche Auswirkungen der sozialen Medien gibt es auch Anzeichen für positive Effekte, was die Datenlage zusätzlich kompliziert macht.

Jeder zehnte Siebenjährige nutzt Tiktok

Klar ist, dass immer mehr Kinder in Deutschland immer früher soziale Medien nutzen. Einer aktuellen Studie zufolge verwendet jeder zehnte Sechs- oder Siebenjährige die Videoplattform Tiktok mindestens einmal in der Woche. Bei den Acht- und Neunjährigen sind es 17 Prozent; bei den Zehn- und Elfjährigen ist es bereits jeder Zweite. Bis 13 Jahren erhöht sich die Quote auf 71 Prozent.

Die Hälfte aller in der Studie „Kindheit – Internet – Medien“ befragten Kinder beziehungsweise deren Eltern berichten von einer täglichen Nutzung sozialer Medien. Die Studie „Jugend – Internet – Medien“ kommt zu dem Schluss, dass über 80 Prozent der Jugendlichen im Schnitt 3,5 Stunden am Tag Social Media verwenden.

Laut einer Befragung der Weltgesundheitsorganisation WHO wiesen dabei elf Prozent der Jugendlichen in Deutschland ein suchtartiges Nutzungsverhalten auf – besonders häufig seien Dreizehnjährige betroffen. Eine Studie der Krankenkasse DAK aus dem Jahr 2024 kam mit 4,7 Prozent auf eine im Vergleich geringere, aber dennoch hohe Quote von Jugendlichen mit suchtartigem Verhalten.

Soziale Medien gehen mit Stresserleben, Nervosität und Essstörungen einher

Kindheit und Jugend seien besonders kritische Lebensphasen, denn in dieser Zeit entwickelten sich die meisten psychischen Krankheiten, schreiben die Autoren des Leopoldina-Papiers. Verschiedene Studien kämen zu dem Ergebnis, dass eine suchtartige Nutzung sozialer Medien mit verstärkten Depressions- und Angstsymptomen, Stresserleben, Nervosität, Schlafproblemen, beeinträchtigter Aufmerksamkeit und Essstörungen verbunden sein kann. Längsschnittanalysen belegen, dass eine intensivere Nutzung von Tiktok, Instagram und Co. mit einem Rückgang der Lebenszufriedenheit einhergeht.

Doch diese Studien lassen streng genommen keine Rückschlüsse auf Ursache und Wirkung zu. So ist es zum Beispiel denkbar, dass Jugendliche aufgrund von Schlafproblemen vermehrt zu sozialen Medien greifen – die Probleme also die Ursache für die Nutzung sind und nicht umgekehrt. Experimentelle Studien, bei denen eine zufällig ausgewählte Gruppe auf soziale Medien verzichtet, liefern zwar Belege dafür, dass diese Reduktion zu einer besseren psychischen Gesundheit führt. Sie wurden jedoch bisher nur mit Erwachsenen durchgeführt. Für Kinder unter 13 Jahren gebe es nur sehr wenige Forschungsergebnisse, beklagen die Wissenschaftler.

Mangel an wissenschaftlicher Evidenz als Ausrede

Dieser Mangel an kausalen Belegen dient der Techindustrie bisher als Argument, um eine schädliche Wirkung ihrer Plattformen zu leugnen. Mark Zuckerberg, der Chef des Facebook-Konzerns Meta, sagte 2024: „Die meisten hochwertigen Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen [sozialen Medien und psychischer Gesundheit] gibt.“ Der langjährige Meta-Manager Nick Clegg verwies darauf, dass seine Apps „der überwiegenden Mehrheit der jungen Menschen eine positive Erfahrung“ böten.

DSGVO Platzhalter

Beides erkennen die Autoren des Leopoldina-Papiers an. Daher wenden sie zum einen dort, wo belastbare Evidenz bislang noch fehle, das Vorsorgeprinzip an und empfehlen Maßnahmen, die nach heutigem Wissensstand als sinnvoll erscheinen. Zum anderen verweisen sie auf die positiven Wirkungen, etwa dass soziale Medien den Jugendlichen helfen, eine politische Stimme zu finden, ihr Selbstwertgefühl zu stärken und Kontakte zu pflegen. Gerade für Jugendliche, die sexuellen Minderheiten angehören, könnte die virtuelle Vernetzung wichtig sein. Reine Altersbeschränkungen greifen laut den Autoren daher zu kurz.

Gestaffelte Maßnahmen je nach Alter

Ihre Maßnahmen zur Regulierung sind gestaffelt. Sie fordern ein Mindestalter von 13 Jahren für soziale Medien. Jugendliche bis 15 Jahre sollten mit Zustimmung der Eltern soziale Medien nutzen dürfen. Zudem sollen die Eltern technische Möglichkeiten bekommen, die Nutzung zu überwachen. Die Plattformen sollen die Konten von Minderjährigen einschränken, beispielsweise durch ein Verbot personalisierter Werbung sowie Werbung für gesundheitsgefährdende Produkte und eine Einschränkung auf altersgerechte Vorschläge von Inhalten.

Die Konten von unter Sechzehnjährigen sollen kein Livestreaming, keine Pushnachrichten und kein endloses Scrollen erlauben. Das sei im Einklang mit dem Gesetz über digitale Dienste der EU. Plattformbetreiber sollten systematische Unterbrechungen einbauen, die es den Jugendlichen leichter ermöglichen, sich von den Plattformen loszureißen.

Die Bundesregierung, so die Forderung der Autoren, soll sich auf EU-Ebene für entsprechende Regelungen einsetzen. Dafür sei auch eine digitale Infrastruktur zur Altersverifikation nötig. Das von 2026 an einzuführende EUDI-Wallet sei eine geeignete technische Lösung, müsse aber zusätzlich einen Nachweis der elterlichen Zustimmung und des Mindestalters von 13 Jahren erlauben.

Welche Auswirkungen wird KI haben?

Abseits der Plattformen empfehlen die Autoren ein Verbot von Smartphones an Schulen bis zur zehnten Klasse, einen digitalen Bildungskanon, der einen Umgang mit sozialen Medien vermittelt, und eine Public-Health-Aufklärungskampagne zu Nutzen, Risiken und Schutzmöglichkeiten im Umgang mit sozialen Medien. Nicht zuletzt solle die Erforschung der offenen Fragen gestärkt werden – etwa mit einem einfacheren Zugang zu den Daten von Techplattformen.

Dieser Punkt ist vor allem angesichts der anstehenden Entwicklung durch Künstliche Intelligenz relevant: Denn auf Sprachmodellen basierende Avatare können zwischenmenschliche Beziehungen simulieren, sich Vertrauen erschleichen und Dienstleistungen für emotionale Bedürfnisse anbieten. Was wird dies für die Psyche junger Menschen bedeuten? Wie werden sie die Entwicklung von Kindern beeinflussen? Das ist der Wissenschaft bislang gänzlich unbekannt.