Schrilles Pfeifen tönt durch den Tunnel. Die Anlage beginnt zu vibrieren, das gewaltige Rundschild mit einem Durchmesser von mehr als zwölf Metern setzt sich in Bewegung. Ein ohrenbetäubendes dumpfes Rattern erfüllt die Röhre tief unter dem Gotthard-Massiv. Die Tunnelbohrmaschine Alessandra läuft an. Die Rollenmeißel in dem sich drehenden Bohrkopf beißen sich in den Fels, sie schaben, fräsen, brechen ihn ab. Der Stein fällt in kleinen Brocken auf ein Förderband, das das Geröll nach hinten bringt. Hauke Helmerichs leuchtet mit einer Taschenlampe durch eine Luke von hinten auf das rumpelnde Rundschild, bevor der Ingenieur sich umdreht und durch den Staub zum Leitstand von Alessandra geht.
Alessandra ist eine 100 Meter lange Tunnelbohrmaschine des badischen Maschinenbauers Herrenknecht . Seit Februar bohrt sie sich durch Granit, Gneis und Schiefer, um die beiden Schweizer Orte Göschenen und Airolo zu verbinden und dem 17 Kilometer langen Gotthard-Straßentunnel, dem Schlüsselbauwerk des europäischen Nord-Süd-Verkehrs über die Alpen, eine zweite Röhre hinzuzufügen. Der stählerne Lindwurm wühlt sich von Norden durch den Berg, von Süden kommt ihm eine zweite Maschine namens Paulina entgegen. Mitte 2027 sollen sie sich tief unter dem 2107 Meter hohen Gotthard-Pass treffen. Die ersten Autos werden nach dem Innenausbau im Jahr 2030 durch den Tunnel fahren.

Der Tunnelbohrer schafft höchsten zwei Meter pro Stunde
Im Leitstand blickt Hauke Helmerichs auf sechs Bildschirme und die Knöpfe und Regler, mit denen die Tunnelbohrmaschine gesteuert wird. Gerade fräst sich Alessandra mit einer Geschwindigkeit von 36 Millimetern in der Minute nach vorne, das ist schnell – im Durchschnitt kommt sie nur 20 bis 30 Millimeter in der Minute voran. „Wenn wir zwei Meter in der Stunde schaffen, ist das viel. Normal sind 1,2 bis 1,5 Meter“, erklärt Helmerichs. Der Maschinenbauingenieur kennt seine Alessandra genau. Er hat für Herrenknecht im Sommer 2024 die Abnahme der Maschine am Stammsitz in Schwanau bei Lahr im Schwarzwald begleitet. Vor allem aber hat Helmerichs das Herrenknecht-Team geleitet, das Alessandra nach der Demontage in Baden am Gotthard wieder aufgebaut und für den Betrieb fertiggemacht hat. Sechs Monate dauerte das.
Mit den Andrehfeiern in Göschenen und Airolo haben im vergangenen Februar die Bohrarbeiten begonnen. Alessandra hat bis Mitte Juli elf Prozent, Paulina im Süden zwei Prozent der Wegstrecke geschafft. Zuvor hatten geologische Untersuchungen, Bergerkundungen und viele Probebohrungen, welche die Tunnelbauer von der ersten Röhre des Gotthard-Tunnels aus in Richtung der geplanten Trasse in den Fels gestemmt hatten, Hinweise auf zwei größere Störzonen ergeben. Das sind Stellen, an denen der Stein bröckelig, mit Rissen durchzogen, porös ist. Alessandra und Paulina können dort nicht arbeiten. Die Bauunternehmen trieben mit zwei weiteren Maschinen von Herrenknecht Nebentunnel in den Berg, um von außen an die Störzonen heranzukommen und die Röhren dort konventionell mit Sprengladungen und Baggern in den Berg zu brechen.
„Die Gefahr ist, dass man übersteuert“
Im Leitstand kontrolliert Hauke Helmerichs den Bildschirm für die Lenkung von Alessandra. Ein blauer Punkt muss in ein schwarzes Fadenkreuz gebracht werden, damit die 2200 Tonnen schwere Maschine die Trasse millimetergenau trifft. Aber die Maschine ist schwerfällig, es dauert Stunden, bis sie auf die ersten Lenkbewegungen reagiert. „Man braucht viel Erfahrung beim Lenken, gerade weil sie sich so langsam auf Richtungsänderungen einstellt. Die Gefahr ist immer, dass man übersteuert“, sagt Helmerichs. Auf der Maschine ist der 28 Jahre alte Ingenieur zu Hause, in den Bergen nicht. Er stammt von der Nordseeküste, nach einem Maschinenbaustudium in Emden kam der Fan von Werder Bremen vor fünf Jahren zu Herrenknecht und hat das vergangene Jahr fast vollständig im Kanton Uri verbracht, um Alessandra zu betreuen.

Nach etwa 90 Minuten kommt Helmerichs’ Maschine aber erst einmal zur Ruhe, zwei Meter Tunnel hat sie wieder geschafft. Der Bohrkopf verliert an Geschwindigkeit und bleibt stehen. Wenige Meter dahinter schippen Bauarbeiter Geröll und Matsch aus dem Tunnel, um die Stelle vorzubereiten, an der die Tunnelbohrmaschine nun den nächsten Abschnitt der Verschalung aufbaut. Diese kreisrunde Betonwand liegt in sechs Einzelteilen auf schweren Wagen im Bauch von Alessandra. Mit Vakuumgreifern richten die Ingenieure die zehn Tonnen schweren sogenannten Tübbinge auf und fixieren die Konstruktion mit dem vier Tonnen leichteren Schlussstein. „Diese Massivität des Betonrings nutzt die Maschine dann beim nächsten Bohren, um sich abzudrücken und den notwendigen Druck zu entwickeln, der das Schild gegen den Fels presst“, erläutert Helmerichs. Rund 20 Minuten dauert die Installation der Tübbinge, dann erschallt wieder das durchdringende Heulen der Sirene. Die Antriebe fahren hoch – und Alessandra fräst weiter.
„Technische Meilensteine“ am Gotthard
Sowohl Alessandra als auch Paulina stammen von Herrenknecht, die beiden kleineren Tunnelbohrmaschinen für die Nebenröhren hat das badische Familienunternehmen ebenfalls am Stammsitz in Schwanau gebaut und in die Schweiz geliefert. Gegründet 1975 als Ingenieurbüro, hat Vorstandschef und Inhaber Martin Herrenknecht das Unternehmen zu einem Spezialisten für Tunnelvortriebsmaschinen entwickelt. „Die Projekte am Gotthard sind technische Meilensteine und ein starkes europäisches Signal: Selbst die größten natürlichen Hindernisse lassen sich überwinden, wenn Ingenieurskunst und eine starke Mannschaft zusammenkommen“, sagt der Unternehmer der F.A.Z. Für den 83-Jährigen habe das Projekt eine besondere Bedeutung. „Ich habe meine Karriere in der Schweiz begonnen und schon früh davon geträumt, eines Tages am Gotthard einen Tunnel zu bauen. Dass wir nun nach dem Basistunnel auch beim Bau der zweiten Röhre des Straßentunnels mit mehreren Maschinen mitwirken, ist für mich ein Stück gelebte Geschichte.“
Nach Unternehmensangaben ist die Herrenknecht AG der einzige nichtchinesische Hersteller, der Maschinen dieser Größe bauen kann. Sie sind in aller Welt im Einsatz: Zu den bedeutendsten Projekten zählen der Gotthard-Basistunnel für Züge und der Brenner-Basistunnel. Auch am Ausbau der Pariser Metro für die Olympischen Spiele war das Familienunternehmen beteiligt. 2024 erwirtschaftete Herrenknecht mit rund 5500 Mitarbeitern einen Umsatz von 1,3 Milliarden Euro. Den Gewinn nennt der Unternehmen nicht. Trotz angespannter Geschäftslage habe man im vergangenen Jahr „gute Ergebnisse“ erzielt.
Bohrmaschine kostet einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag
Für die beiden Hauptmaschinen am Gotthard haben die Kunden von Herrenknecht jeweils einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag gezahlt. Während das badische Unternehmen der Maschinenlieferant ist, liegt die Verantwortung für die Ausführung der Bohrungen bei den Schweizer Bauunternehmen Frutiger und Implenia im Norden sowie Marti im Süden. Bauherr ist das Schweizer Bundesamt für Straßen (Astra). Die Bauarbeiter der drei Konzerne werden noch lange Zeit in der Röhre arbeiten, wenn Herrenknecht Alessandra und Paulina schon längst abgebaut hat. „Das Loch ist schnell da, aber bis alles abgesichert ist, das dauert“, sagt Helmerichs. Die Lüftung und die Signaltechnik müssen eingebaut, Licht und Feuerschutz installiert werden. Zwischen dem Zusammentreffen von Alessandra und Paulina im Inneren des Berges und der Eröffnung des Straßentunnels für Autofahrer liegen drei Jahre.

Hinter dem Leitstand von Alessandra prüft Thomas Aschwanden, ein Kollege von Hauke Helmerichs, den Kies, den die Maschine hinter die Tübbinge füllt. Der Schweizer stammt aus der kleinen Gemeinde Flüelen am Vierwaldstätter See, die 30 Kilometer nördlich vom Gotthard liegt. Er weiß genau, was das Massiv für die Eidgenossen bedeutet. „Für uns sind Tunnel und Pass das Tor zum Süden“, sagt Aschwanden. „Nachdem die erste Röhre für den Autoverkehr 1980 eröffnet wurde, bin ich regelmäßig mit meinen Großeltern durch den Tunnel nach Italien gefahren.“ Doch der Gotthard ist für die Schweiz mehr als ein Alpenübergang. Die gesamte Region hat für das Land eine starke emotionale Bedeutung. Sie gilt nicht nur als Wiege der Eidgenossenschaft. Das Bergmassiv war auch Kernbestandteil der Landesverteidigung: In das sogenannte Reduit wollte man sich im Zweiten Weltkrieg im Fall eines Angriffs zurückziehen und die eigene Unabhängigkeit mit Zähnen und Klauen verteidigen.
„Der Gotthard ist mein Lebensprojekt“
Vor seinem Wechsel zu Herrenknecht hat Thomas Aschwanden unter anderem für das österreichische Bauunternehmen Strabag gearbeitet und auf Herrenknecht-Maschinen mit am Gotthard-Basistunnel gebaut, dem mit 57 Kilometern längsten Eisenbahntunnel der Welt. „Ich war mehr oder weniger immer Tunnelbauer“, sagt der 51 Jahre alte Ingenieur in dem für den Kanton Uri typischen kantigen Schweizer Dialekt. Noch immer erinnert er sich voller Stolz an den Durchschlag beim Basistunnel zwischen Erstfeld und Amsteg – an den Moment, als die Maschine die Wand durchbrach, auf der die Tunnelbauer groß das Strabag-Logo gesprüht hatten. „Der Gotthard ist ein wenig mein Lebensprojekt“, sagt Aschwanden über die seine Heimat so prägende Verkehrsverbindung.
Auch die Namensgeberin der Tunnelbohrmaschine, die sich von Göschenen aus in den Berg vorarbeitet, ist nicht weit vom Gotthard aufgewachsen. Alessandra Keller ist die Tochter des Baustellenchefs auf der Nordseite, Markus Keller. Dessen Tunnelbohrmannschaft habe vorgeschlagen, der Maschine ihren Namen zu geben, erzählt Alessandra Keller am Telefon. „Darüber habe ich mich riesig gefreut. Das ist eine megagroße Ehre für mich.“ Schon als kleines Mädchen habe sie ihren Vater immer wieder auf Tunnelbaustellen besucht und dabei auch die Mineure kennengelernt, die stets eine verschworene Gemeinschaft bildeten. Doch die 29-Jährige ist nicht nur die Tochter des Baustellenchefs, sondern auch eine in der Schweiz bekannte professionelle Mountainbike-Fahrerin, die schon etliche nationale und internationale Titel gewonnen hat. Alessandras Resultate sollen symbolisch auch der Tunnelbohrmaschine Kraft und Ausdauer verleihen, so die Hoffnung der Tunnelbauer.
Probleme an der Südseite des Tunnels
Bisher scheint das gut zu klappen. Alessandra kommt gut voran. Das lässt sich von Paulina zurzeit nicht gerade behaupten. Die Maschine, die sich von Süden durch den Berg fräsen soll und deren Name eine Referenz an Martin Herrenknechts Ehefrau Paulina darstellt, ist im Moment arbeitslos. Ende Juni musste die Tunnelbohrmaschine nach 190 Metern gestoppt werden. Sie stieß auf eine dritte nicht vorhergesehene Störzone, die einen maschinellen Vortrieb unmöglich machte. Auf den kommenden rund 500 Metern wird das Gestein jetzt mittels Sprengungen ausgebrochen. Diese Arbeit wird nach Astra-Schätzungen sechs bis acht Monate dauern und zusätzliche Kosten von 15 bis 20 Millionen Franken verursachen. Trotzdem hält Astra sowohl am bisherigen Zeitplan als auch an der bestehenden Gesamtkostenkalkulation für das Großprojekt fest, wie Behördensprecher Jérôme Jacky im Gespräch mit der F.A.Z. betont.
Der feierliche Durchbruch zwischen dem Nord- und dem Südtunnel soll also nach wie vor im Sommer 2027 erfolgen. „Bei solchen Tunnelprojekten sind immer Überraschungen möglich. Daher planen wir stets eine gewisse Zeitreserve ein“, erläutert Jacky. Zugleich drücke man aufs Tempo: „Die Sprengarbeiten erfolgen im Dreischichtbetrieb an sieben Tagen in der Woche. Zudem ziehen wir bestimmte Arbeiten vor, um an anderen Stellen etwas Zeit zu gewinnen.“
Die Kosten liegen bisher im Plan
Die Gesamtkosten für das Projekt veranschlagt das Astra unverändert auf 2,14 Milliarden Franken (rund 2,3 Milliarden Euro). Darin sind auch die Kosten für die Sanierung der schon bestehenden Röhre enthalten. In der Kalkulation war von vornherein ein Puffer von plus/minus zehn Prozent eingerechnet, der unter anderem geologische Risiken berücksichtigt. Damit wäre auch ein deutlich höherer Mehraufwand als die avisierten 20 Millionen Franken abgedeckt. Schon beim Bau des gut zwölf Milliarden Franken teuren Gotthard-Basistunnels war es den Schweizern gelungen, weitestgehend im Zeit- und Kostenplan zu bleiben. In Deutschland hingegen laufen öffentliche Großprojekte – von Stuttgart 21 über den Berliner Flughafen bis zur Elbphilharmonie – regelmäßig gewaltig aus dem Ruder.
Ein grundsätzlicher Unterschied besteht darin, dass große Infrastrukturprojekte in der Schweiz vom Volk genehmigt werden müssen. Dem Basistunnel stimmten die Bürger ebenso mehrheitlich zu wie dem Bau der zweiten Gotthardröhre für den Autoverkehr. Dank dieser breiten Legitimation gab es keine Blockaden oder öffentliche Proteste gegen die Vorhaben. Als weitere Stärke gilt die präzise Projektierung. Die einzelnen Konstruktionsschritte und Bauaufgaben werden erst dann öffentlich ausgeschrieben, wenn genau feststeht, was in jedem Schritt zu tun ist. Nachträgliche und damit kostentreibende Änderungswünsche des Bauherrn sind in der Regel tabu.
Die Tunnelkapazität soll nicht erhöht werden
Die langen Staus, die sich insbesondere in den Sommermonaten vor den Tunneleingängen bilden, dürften damit aber nicht zu Ende gehen. Denn die zweite Röhre dient nur dazu, in aller Ruhe und Sicherheit den bestehenden Tunnel zu sanieren. Dies soll bis zum Jahr 2033 erledigt sein. Danach darf jede Röhre nur auf einer Spur befahren werden. Denn gemäß dem in der Schweizer Verfassung stehenden Alpenschutzprogramm, das auf eine Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene zielt, darf die Kapazität nicht erhöht werden. Um diese Vorgabe zu kippen, müsste es dereinst eine entsprechende Mehrheit in einer neuen Volksabstimmung geben.
Nachdem Alessandra auf der Nordseite wieder angelaufen ist, beginnt auch das Förderband wieder zu rattern. Auf einer langen Kunststoffbahn fährt das Geröll aus dem Tunnel. Immer wieder müssen die Tunnelbauer die Konstruktion verlängern, je weiter die Maschine sich in den Berg gräbt, desto länger wird der Weg ans Tageslicht. Kurz vor dem Tunnelende passiert der abgebrochene Fels eine kleine Nische. Warmes Licht beleuchtet eine Statue der heiligen Barbara. Ein verstaubter Blumenstrauß ehrt die Schutzpatronin der Tunnelbauer. „Ich bin nicht sehr gläubig, aber wenn ich in den Tunnel fahre, schaue ich doch immer kurz in die Nische“, sagt Thomas Aschwanden. „Jeder, der im Tunnel arbeitet, weiß, wo sie steht, und macht das so.“
Für den Schutz, den die Heilige so gewährt, werden die Tunnelbauer sie in zwei Jahren ehren. Beim feierlichen Durchbruch ist sie die Erste, die ihn passiert: Die Mineure werden eine Statue ihrer Schutzpatronin durch das gebrochene Loch reichen, noch bevor sie selbst hindurchklettern und feiern.