Gegenseitige Vorwürfe und viel Ratlosigkeit

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Eigentlich ruht die Arbeit des Bundestags zwischen den Jahren – selbst, wenn Wahlkampf ist. Doch der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg vor anderthalb Wochen erschüttert die nachweihnachtliche Ruhe. Am Montagmittag kam der Innenausschuss zu einer Sondersitzung zusammen. An der Sitzung nahmen nicht nur Parlamentarier teil, sondern auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), die Chefs des Bundeskriminalamts, des Bundesamts für Verfassungsschutz, des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge und mehrere Vertreter des Landes Sachsen-Anhalt.

Die umfangreiche Teilnehmerliste der nicht öffentlichen Sitzung beschreibt einen Teil des Rätsels rund um Taleb Al A., den mutmaßlichen Täter von Magdeburg, der bei seiner Todesfahrt über den Weihnachtsmarkt fünf Menschen tötete und viele weitere verletzte: Wie kann es sein, dass so viele Behörden Hinweise zu Al A. hatten, er mehrfach verurteilt war, es Gefährderansprachen gab – und trotzdem nichts geschah, was ihn von seiner Tat abgehalten hätte?

Die CSU-Innenpolitikerin Andrea Lindholz fächerte diese Frage vor Beginn der Innenausschusssitzung noch einmal in mehr als ein Dutzend weitere Fragen auf, die geklärt werden müssten. Waren die Behörden ausreichend vernetzt? Wieso gab es Gefährderansprachen, aber Al A. selbst wurde nicht als Gefährder eingestuft? Und wurden die Hinweise ausländischer Geheimdienste ausreichend ernst genommen?

Lindholz gab eine gewisse Ratlosigkeit zu. Weil der mutmaßliche Täter kein klassischer Islamist gewesen sei oder Rechtsextremist, sei er unter dem Radar gewesen. Der SPD-Innenpolitiker Sebastian Hartmann gab ihr in dem Punkt recht, dass nun jeder Stein umgedreht werden müsse, um die Tat aufzuklären und ähnliche Gefahren künftig abwehren zu können.

Union und SPD haben eine ähnliche Idee

Wenn es nach CDU/CSU und SPD geht, dann würde sich unter den jetzt umzudrehenden Steinen auch die ein oder andere weitergehende Befugnis für die Sicherheitsbehörden finden. Lindholz und Hartmann machten sich am Montag gegenseitig den Vorwurf, weitergehende Befugnisse blockiert zu haben. In der Sache war man sich aber weitgehend einig. Lindholz und Hartmann sprechen sich beide für eine Speicherung von IP-Adressen aus.

Das Thema ist ein Dauerbrenner der sicherheitspolitischen Debatte. Vertreter der Grünen und der FDP wiesen am Montag darauf hin, dass in dem konkreten Fall von Magdeburg diese Speicherung nichts gebracht hätte, weil Al A. seinen Hass für jeden sichtbar auf der Plattform X ausbreitete, er von Gerichten sogar verurteilt worden war.

Der FDP-Innenpolitiker Konstantin Kuhle sprach von „Nebelkerzen“, wenn nun die Union und SPD die Speicherung von IP-Adressen oder die Möglichkeit zur elektronischen Gesichtserkennung forderten. CSU-Politikerin Lindholz hatte ihrerseits von Ideologie gesprochen, wenn man solche Möglichkeiten, unabhängig von der konkreten Tat in Magdeburg, den Sicherheitsbehörden verweigern wolle.

Der Grünen-Innenpolitiker Konstantin von Notz versuchte das Erkenntnisinteresse in den Vordergrund zu stellen. Vor dem Innenausschuss hatte am Montag auch das Parlamentarische Kontrollgremium getagt. Es kümmert sich um die Kontrolle der Nachrichtendienste, von Notz ist sein Vorsitzender. Das Gremium tagt geheim. Vor der Sitzung des Innenausschusses sagte von Notz dann, es müsse aus den Erkenntnissen um A. nun abgeleitet werden, wie künftige Anschläge verhindert werden könnten.

Grünen-Politiker von Notz fordert Konsequenzen

In einem Punkt legte er sich fest: Es könne nicht so laufen wie beim Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz oder dem Unglück der Love Parade in Duisburg, dass nämlich niemand am Ende Verantwortung übernehme. Wo die CSU-Politikerin Lindholz noch gesagt hatte, es gebe nicht eine verantwortliche Person an einer konkreten Stelle, stellte von Notz fest, dass diesmal jemand Verantwortung werde übernehmen müssen. Ob er damit jemanden aus der Landes- oder der Bundespolitik meinte, wollte er auch auf Nachfrage nicht sagen.

Immerhin ist inzwischen auch bekannt, dass der Weihnachtsmarkt in der Tatnacht nicht so gesichert war wie vorgesehen. Ein Polizeiauto, das eigentlich die Rettungsgasse hätte sichern sollen, stand demnach nicht an seinem vorgesehenen Platz, sondern einige Meter entfernt in einer Taxibucht.

Die Tat verbindet damit Themen miteinander, die einige Politiker gerne weiterhin trennen würden: Sicherheit vulnera­bler Orte, Ausstattung der Sicherheitsbehörden und Migration. Denn der 50 Jahre alte Al A. stammt aus Saudi-Arabien, seit 2006 lebt er in Deutschland, wo er eine Facharztausbildung machte und schließlich, trotz Vorstrafe, Asyl bekam.

Die Union legte am Montagmorgen via „Bild“-Zeitung die Forderung vor, im Falle eines Wahlsiegs deutlich härter gegen straffällige Asylbewerber vorzugehen. Es sei „unerträglich, dass es Menschen gibt, die zigfach vorbestraft sind – dies aber keinerlei Auswirkungen darauf hat, ob sie das Land verlassen müssen oder nicht“, sagte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann der Zeitung. Nach einem „Warnschuss“ müsse daher künftig bei der zweiten vorsätzlichen Straftat das Aufenthaltsrecht zwingend erlöschen. Linnemann zählt dazu auch Delikte wie Diebstahl und Einbruch.

In der Debatte ging es bislang um schwere Straftaten, die zu einer Abschiebung führen sollten. „Wer zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird, egal wie lange oder ob auf Bewährung, muss in Zukunft zwingend sein Aufenthaltsrecht verlieren“, sagte Linnemann.

Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil forderte, dass, wer terroristische Straftaten androhe, Deutschland verlassen müsse. Darüber hinaus gelte es, Sicherheitsfragen nicht mit Migrationsfragen zu vermischen. Andere in seiner Partei scheinen da eher die Geduld zu verlieren.

Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil konstatierte gegenüber der Deutschen Presse-Agentur, dass es in der Gesellschaft heute eine größere Skepsis gegenüber Flüchtlingen gebe als 2015. Auf die Frage, ob die damalige Willkommenskultur am Ende sei, sagte Weil: „Die Willkommenskultur muss durch eine realistische Aufgeschlossenheit ersetzt werden.“