Warum sich das Verhältnis geändert hat

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Ein paar Stunden später sind sie versammelt, Männer, ein paar Frauen, dicht an dicht, das Büro ist klein, sie trinken und lachen, und zu später Stunde kann es vorkommen, dass auch gesungen wird. Leuchtende Gesichter, Kneipenstimmung. Es gibt Handyvideos davon. Bislang war niemand so blöd – oder blau –, eines ins Netz zu stellen.

Was in Bonn normal war, fällt in Berlin auf

Denn obwohl in Busens Büro nichts Ungehöriges geschieht, könnten Bilder davon gegen die Beteiligten verwendet werden. Das liegt daran, dass es Abgeordnete sind und sie mehr als nur ein Glas trinken. Was in der Bonner Repu­blik normal war, fällt in Berlin inzwischen auf. Normal ist heute die Zurückhaltung, das Glas Wasser nach dem ersten Wein oder gleich die Cola light. Es hat sich etwas verändert im Verhältnis von Politik und Alkohol.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Man könnte annehmen, das spiegele nur eine größere Entwicklung: Die Deutschen bechern halt weniger als früher. Tranken sie 2008 im Schnitt noch rund 110 Liter Bier im Jahr, waren es 2023 nur noch 88 Liter. Auch Wein, Sekt und Spirituosen wurden seltener geöffnet. Blickt man weiter in die Vergangenheit, sind die Unterschiede noch deutlicher: 1980 konsumierten Erwachsene durchschnittlich 15 Liter Reinalkohol. Im Jahr 2020 waren es nur noch zehn Liter, ein Drittel weniger.

Kein Wunder, es wird ja auch weniger geraucht, weniger Fleisch gegessen, mehr Fitness gemacht. In vielen Firmen ersetzen Obstkörbe Sektfrühstücke, und schon lange hat der Spielzeughersteller Playmobil den Bierkasten aus dem Bauarbeiter-Set entfernt. Warum sollte diese Entwicklung am Bundestag vorbeigehen?

Tut sie nicht. Aber etwas anderes kommt hinzu. Der Beruf des Spitzenpolitikers hat sich drastischer verändert als die Welt um ihn herum. Auszeiten sind kaum mehr drin. Bundeskanzler Willy Brandt lag manchmal tagelang ausgebrannt im Bett – unvorstellbar, dass sich das heute ein Regierungschef erlauben könnte. Schon wenn Olaf Scholz mal wenige Stunden nichts öffentlich sagt, heißt es in sozialen Netzwerken und Medien „Was macht eigentlich . . .?“.

Auch Helmut Kohls Freude an rieslingseligen Abenden scheint Jahrhunderte her. In der globalisierten und vernetzten Welt erfahren die Deutschen minütlich etwas, das nach Einordnung durch Politiker verlangt. Und die sind dann besser nüchtern.

Das Funktionieren hat einen Preis

Darum verzichtete Scholz vor vier Jahren ganz auf Alkohol, als er wusste, dass er Kanzlerkandidat würde. Als Kanzler trank er dann hin und wieder ein Glas Wein, zum Beispiel zum versöhnlichen Abschluss nervenzehrender Abendsitzungen mit Robert Habeck und Christian Lindner. Kevin Kühnert, bis vor Kurzem Generalsekretär der SPD, sagte im Sommer, er trinke seit einem Jahr nichts mehr. Das bisschen Schlaf, das er bekomme, müsse gesund und tief sein, das gehe nicht mit Alkohol im Blut.

Er klang, als bedaure er es. Lockerheit gehe verloren, sagte er. Das disziplinierte Funktionieren hat allerdings einen Preis. Kühnert trat kürzlich aus gesundheitlichen Gründen zurück.

Natürlich gibt es immer noch viele, die regelmäßig trinken und das auch zugeben. Oft sind sie älter, oft Männer, meist solche, die sich selbst im sonnigen Herbst ihrer Karriere sehen. Einer der bekanntesten ist Wolfgang Kubicki, Vizepräsident des Bundestags und stellvertretender FDP-Chef. Wo man ihn abends trifft, hat er eigentlich immer ein Glas Wein in der Hand und meist nicht das erste.

Kubicki weiß, dass er damit auffällt – es ist ihm aber „egal“, sagt er im Gespräch mit der F.A.S., noch leicht verkatert, da er am Vorabend bei einem Weihnachtsmarktbesuch mit Mitarbeitern ordentlich gefeiert hat, erst mit Weißwein, dann mit Schnäpsen. „Da sagen die Leute: Der ist einfach so.“ Kubickis Markenkern ist seine Unangepasstheit. Viele Deutsche erkennen sich in ihm wieder, gerade weil er demonstrativ wenig darauf gibt, was als schicklich gilt.

Sagte von sich, er regiere mit der Leber: der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder 2008 mit dem damaligen Umweltminister Sigmar Gabriel (r.) und dem damaligen Generalsekretär Hubertus Heil beim SPD-Sommerfest in Berlin
Sagte von sich, er regiere mit der Leber: der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder 2008 mit dem damaligen Umweltminister Sigmar Gabriel (r.) und dem damaligen Generalsekretär Hubertus Heil beim SPD-Sommerfest in Berlinactionpress

Kubicki ist klar, dass das ein Privileg ist. Es kann nicht jeder ein Typ wie er sein. So kenne er unter Abgeordneten wenige, die Lust verspürten, in Berlin in die Kneipe zu gehen. Kubicki, obzwar anders unterwegs, hat dafür Verständnis. „Die fürchten, mit verfänglichen Fotos vom Trinken bloßgestellt zu werden.“

Das liege an den Handys, mit denen jeder vom Nebentisch aus fotografieren und filmen könne – aber auch an manchen Medien, die für solches Material zahlten. Die „Bild“ etwa bietet bis zu 250 Euro für Fotos von „Leserreportern“. Wenn überhaupt trinke man unter sich, zum Beispiel in der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft, gegenüber dem Reichstag. Da haben nur Abgeordnete und ihre Gäste Zutritt.

Dass in solchen Runden dann „zu 90 Prozent Männer beim Bierchen“ säßen, wie die Linken-Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek kürzlich kritisierte, ist sinnbildlich für die veränderten Zeiten in der Politik. Ein Mann, der die Veränderung aus verschiedenen Perspektiven beobachtet hat, ist Knut Bergmann. Er leitet das Hauptstadtbüro des Instituts der deutschen Wirtschaft, arbeitete früher im Bundespräsidialamt, unter anderem als Redenschreiber für Horst Köhler, und verfasste eine Kulturgeschichte der Bundesrepublik anhand der Weine, die bei Staatsbanketten ausgeschenkt wurden. Darin betont er auch die gemeinschaftsstiftende Wirkung des geselligen Trinkens, in der Politik wie überall.

Bergmann zufolge besagt eine gängige Theorie dazu, wie der Brauch des Anstoßens entstanden ist, dass es in mittelalterlicher Zeit dafür sorgte, dass der Wein aus dem eigenen Glas in das des Gegenübers schwappte. Sollte derjenige einem mit Gift nach dem Leben trachten, würde er sich zieren, den nun vermischten Wein zu trinken. Auch wenn im Regierungsviertel heute niemand mehr den Mordversuch mittels Wein fürchtet: Wer sich zuprostet, streitet zumindest kurz nicht.

Das kann allerdings dazu verführen, die Gläser immer neu zu füllen. Bergmann führt das Sinken des Pegels nicht nur auf gesamtgesellschaftliche Trends zurück, sondern auch darauf, dass jetzt andere mit am Tisch sitzen. „Das Männerbündlerische, das Politik lange hatte, lebte auch vom gemeinsamen Trinken. Dann kamen Frauen dazu – und haben das männliche Modell nicht kopiert“, sagt Bergmann der F.A.S. Dass weniger gesoffen wird, bedauert er grundsätzlich erst mal nicht. Wohl aber, dass Politiker sich für lebensfrohe Abende immer öfter rechtfertigen müssen.

Alkohol dient auch der Entlastung

Mit Saus und Braus, knallenden Korken und Schlemmereien hat deren Leben sowieso wenig zu tun. „Für Menschen, die etwas vom Essen und Trinken verstehen, ist der Beruf des Politikers der falsche. Denn wirklich gut essen und trinken können sie da kaum, nicht zuletzt weil stets die Skandalisierung droht.“ In seinem Buch beschreibt er, wie Sahra Wagenknecht einmal beim Hummeressen fotografiert wurde und anschließend dafür sorgte, dass diese Bilder verschwanden.

Der frühere SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück zog heftigen Zorn auf sich, als er erwähnte, dass er eine Flasche Pinot Grigio für fünf Euro nicht kaufen würde. Wenn Genuss unerwünscht ist, Exzess aber auch – was bleibt dann eigentlich noch?

Sicher, es gibt auch billige Genüsse, etwa eine feldfrische Möhre, und fröhliche Abende bei Limo. Die Küche im Schloss Bellevue bietet zu Festessen inzwischen nicht nur Weine, die auf die Gänge abgestimmt sind, sondern auch entsprechende alkoholfreie Alternativen an. Früher standen nur Wasser und Saft zur Auswahl.

Aber der Konsum von Wein oder Bier dient ja nicht nur dem Löschen des Durstes mit aromatischen Trünken oder dem rauschhaften Totalabsturz, sondern auch, oft sogar vor allem, der seelischen Entlastung. Die Beteiligten machen sich locker, statt es aus eigener Kraft werden zu müssen. Das funktioniert nicht nur in Gesellschaft, sondern auch allein, spätabends im Büro, an der Bar oder im Hotelzimmer. In zehn Minuten von Frust, Erschöpfung, Sorge auf Entspannung: Wird schon, prost.

Die Verlockung ist groß, denn die meisten Politiker denken öfter an ihre Umfrage- als an ihre Leberwerte. Zwar wirkt Verantwortung disziplinierend. Aber ein Glas mehr trinken oft gerade diejenigen, die zwar wichtig genug sind, um unter Druck zu stehen, aber nicht wichtig genug, um dafür mit enormer Macht – auch eine Droge – entschädigt zu werden.

Anders gesagt: Einen klaren Kopf zu behalten, weil gleich Emmanuel Macron anruft, fühlt sich erfüllter an, als es zu tun, weil ein Mitarbeiter wissen will, ob die Zitatkachel für Instagram so online gehen kann.

Hält viel auf seine Unangepasstheit: Wolfgang Kubicki von der FDP, hier 2019 mit Alexander Dobrindt von der CSU beim Starkbieranstich auf dem Nockherberg
Hält viel auf seine Unangepasstheit: Wolfgang Kubicki von der FDP, hier 2019 mit Alexander Dobrindt von der CSU beim Starkbieranstich auf dem Nockherbergdpa

Kubicki wiederum will zwar Genuss und Entlastung; ein Glas Wein könne helfen, „nach Veranstaltungen dem erhöhten Adrenalinspiegel entgegenzuwirken“, sagt er. Aber er will nicht allzu viel bereuen. Darum verzichtet er zum Beispiel darauf, spontan zu twittern. Er schickt seine Postings an Leute aus seinem Team, die sie mit nüchternem Blick prüfen und notfalls bearbeiten, bevor sie ins Netz gehen.

Andere entscheiden sich ganz bewusst für einzelne wilde Abende zwischen längeren Strecken der Abstinenz. Zuletzt waren Weihnachtsfeiern willkommene Anlässe. Da wird auch mal „die Tür von innen abgeschlossen“, wie einer sagt. Dann wird ausgelassen getanzt, getrunken und Unsinn geredet. Übers Jahr verteilt bieten sich andere Anlässe dafür, je nach Fachbereich der Abgeordneten mehr (Landwirtschaftspolitik) oder weniger (Familienpolitik). Der Trinkstimmung förderlich ist es, wenn keine Journalisten dabei sind.

Politiker haben nie Feierabend

Denn die könnten ja berichten, die oder der trinke lustig, während die Lage ernst sei. Das ist sie aber nun einmal immer – und rund um die Uhr. Das Dilemma der Politiker besteht darin, nie wirklich Feierabend zu haben. Wäre das anders, könnten sie so leben wie die meisten Bürger: Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.

Im Plenarsaal des Bundestags sind Getränke verboten, sogar wer ein Glas Wasser will, muss vor die Tür gehen. Das soll die Würde des Hauses unterstreichen. Auch in den Kantinen für Mitarbeiter von Politikern wird nur Alkoholfreies ausgeschenkt. Dass Abgeordnete in ihrem Büro morgens eine Flasche Sekt öffnen, um Gäste zu bewirten, war schon früher selten. Wurde es in Bonn von manchen noch als flamboyant empfunden, dürfte es heute nur noch Befremden hervorrufen. Abgeordnete bekennen sich im informellen Gespräch lieber als Nutzer der Abnehmspritze denn als Daydrinker.

Denn am Ende wollen alle vor allem eines: halbwegs gesund und als Mensch durch den Hochleistungsjob kommen. Dabei wird seelische Gesundheit gegen körperliche abgewogen, kurze Entlastung gegen langfristige Stabilität. Manche Parteivorsitzenden machen sich viele Gedanken zu Resilienzstrategien und Denktechniken, die helfen, die Nerven zu bewahren, aber stehen abends dann doch wieder mit einem Glas mittelmäßigen Weins in der Hand da. Das eine schließt das andere ja auch nicht aus.

Wer Entspannung nicht nur beim Trinken findet, kann auch mal entspannt ein Glas nehmen. Wie viel vertretbar ist, wurde früher anders eingeschätzt als heute. Das tägliche Feierabendbier galt in Deutschland lange eher als Wellness denn als Anzeichen für ein Alkoholproblem.

Bis heute verbindet Politiker und Bürger, dass sie gern mal einen trinken, manche exklusiver, manche rustikaler. Autor Knut Bergmann sieht darin eine Chance, gewissermaßen im Geiste miteinander anzustoßen. „Wenn wir Repräsentanten haben wollen, die sind wie wir, müssen wir nachsichtiger mit ihnen sein.“