Das ganze Jahr erzähle ich allen, wie ungesund Fleisch ist, wie ethisch problematisch und wie schädlich für das Klima. Und das ganze Jahr bekomme ich zu hören, wie missionarisch, wie naiv, wie unverhältnismäßig ich sei. Jetzt, nach meinem Sündenfall, brauche ich niemanden mehr zum Diskutieren. Ich kann den ganzen Konflikt in mir selbst austragen. Ich habe ihn gewissermaßen zu mir genommen und bin dabei, ihn zu verdauen.
Es gab Raclette mit Rinderfilet und knusprigem Hähnchen. Es war köstlich, es war vorzüglich, es war verheerend, es war grausam.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Normalerweise esse ich kein Fleisch, weil ich es ungesund finde – jedenfalls wenn es aus der Tierindustrie stammt und in großen Mengen verzehrt wird. Ich will meinen Körper nicht mit Masthähnchen in Dauerantibiose quälen, die nie das Sonnenlicht gesehen haben. Und auch nicht mit Hackfleisch, in dem so viel Wasser ist, dass es beim Braten zerfließt, und dem man schon ansieht, dass es nicht gesund sein kann. Außerdem glaube ich jenen Medizinern, die für weniger oder gar keinen Fleischkonsum plädieren. Sie sagen, gerade rotes und stark verarbeitetes Fleisch könne die Entstehung von Darmkrebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes begünstigen.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung rät Erwachsenen, nicht mehr als 300 bis 600 Gramm Fleisch pro Woche zu essen, inklusive Wurst. Viele liegen weit darüber, und mir ist oft suspekt, wie bedenkenlos Fleisch verzehrt wird. Also verzichte ich, und meistens macht es mir nicht viel aus. Außer bei Gulasch. Ein Teil meiner Familie stammt aus Wien, da gehört ein Fiaker-Gulasch zur persönlichen Daseinsvorsorge.
Welche Folgen hat die Massentierhaltung?
Ich esse aber auch deshalb kein Fleisch, weil mir die Tiere leidtun. Vor ein paar Jahren habe ich mich mit Tiertransporten von Spanien nach Libyen beschäftigt. Zehntausende Rinder werden jedes Jahr lebend über das Mittelmeer verschifft, weil viele arabische Länder ihren Fleischbedarf nicht selbst decken können, vor allem nicht zum islamischen Opferfest.
Die Tiere erleben auf dem Meer die Hölle, viele sterben schon auf den maroden Kähnen, wo sie im Schiffsbauch zu Tausenden zusammengepfercht werden. Andere leben nach der Ankunft noch, was aber nicht besser sein muss. Auf Videos im Internet kann man sehen, wie ein Kran eine Kuh am Huf aus dem Schiff hievt, weil sie nicht mehr laufen kann. Unter ihrem eigenen Gewicht brechen ihr die Knochen, sie brüllt vor Schmerzen.
Ein Buch des amerikanischen Autors Jonathan Safran Foer hat mich besonders beeindruckt, auf Deutsch heißt es: „Tiere essen“. Als Foer Vater wurde, begann er darüber nachzudenken, ob er seinen Sohn als Fleischesser aufziehen will. Foer ist kein Ideologe, im Gegenteil: Er liebt Hähnchen. Aber die Frage ließ ihn nicht los, also machte er sich auf die Suche nach den ethischen, gesundheitlichen und ökonomischen Folgen des massenhaften Fleischkonsums.
Er besuchte riesige Fleischfabriken im Mittleren Westen, recherchierte verdeckt in Schlachthöfen, beobachtete die Produktion für die Hähnchenkette „Kentucky Fried Chicken“. Er sah vor Schmerzen brüllende Tiere, Hühner ohne Federn, alltägliche Barbarei. Das Buch ist beeindruckend grausam.
Wenn man es bis zum Ende durchgehalten hat, will man nie wieder Tiere essen. Oder nur noch Biofleisch. Das ist besser für die Tiere und für unsere Gesundheit. Aber auch da habe ich kein gutes Gefühl. Viele Biostandards sind für die Verbraucher undurchschaubar, und ich frage mich, was daran wirklich gute Haltung ist und was nur gutes Marketing. Also verzichte ich lieber ganz.
Biofleisch ändert auch nichts an den Folgen für das Klima. Die meisten Forscher sind sich einig: Wenn die Menschen mehr Pflanzen und weniger Tierisches konsumieren würden (auch weniger Milch!), könnten jedes Jahr Millionen Tonnen an Kohlendioxid- und Methanemissionen eingespart werden. Wissenschaftler aus Finnland, Schweden und den USA haben ausgerechnet, dass schon durch ein Achtel weniger Rinder auf den Weiden und mehr Wald über 100 Milliarden Tonnen Kohlendioxid aus der Atmosphäre gebunden werden könnten.
Auch die Böden leiden unter der massenhaften Viehzucht. In den Niederlanden gibt die EU gerade 1,5 Milliarden Euro für den Aufkauf von Landwirtschaftsbetrieben aus, weil deren Stickstoffemissionen die Umwelt verseucht haben.
Ich bin, wenn man so will, also ein guter Mensch, wenn ich kein Fleisch esse. Oder wenn ich keine Milch trinke, weil die industrielle Milchviehhaltung nicht minder problematisch ist. Aber ich bin auch naiv und inkonsequent.
In unserer Familie essen wir Erwachsenen Fleischersatz auf Erbsenbasis, der erstaunlich gut schmeckt. Unseren proteinhungrigen Kindern im Wachstum braten wir aber Fleisch, weil wir uns sagen, sie brauchen das – obwohl man ihren Proteinbedarf auch pflanzlich stillen könnte. Eier esse ich in rauen Mengen, weil ich mir einrede, das bisschen Eierlegen mache das Biohuhn quasi von selbst. Wie naiv das ist, weiß jeder, der mal einen Industrie-Hühnerstall gesehen hat, selbst einen mit Biozertifikat.
Auch Fisch verspeise ich regelmäßig als Fischstäbchen, Backfisch oder Sushi und hoffe jedes Mal, dass die Tiere nur ein bisschen gelitten haben in ihren überfüllten Aquakulturen oder in dem gigantischen Schleppnetz, das den Meeresboden über Kilometer aufgerissen und dabei so ziemlich jedes Leben zerstört hat. Aber Fische gucken mich nicht so treuherzig an wie Kälber, und sie sind auch nicht so putzig wie Ferkel. Also ist mein Mitgefühl mindestens halbiert. Außerdem liebe ich Sushi. Ich bin also nicht konsequent, rede mir aber ein, durch meinen teilweisen Verzicht moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. Mehr jedenfalls als alle, die bedenkenlos Fleisch essen.
Fleisch als nationale Identitätsfrage
Wer das alles hört, denkt bestimmt, ich sei ungeheuer links. Bin ich gar nicht. Was ich esse, setzt mich also nicht nur moralischen, sondern auch politischen Unterstellungen aus. Manche Konservative wie der bayerische Ministerpräsident Markus Söder haben Fleisch zur nationalen Identitätsfrage erhoben und posten in den sozialen Netzwerken Bekennervideos, in denen sie sich trotzig durch Fleischberge essen: maximaler Würstlkonsum als Distinktionsmerkmal. Oder als kulturpolitische Kampfansage.
Als in Berlin über die Einführung einer Tierwohl-Abgabe diskutiert wurde, die es den Bauern erleichtern könnte, ihre Tiere besser zu halten, tat die AfD so, als wolle man den Deutschen ihr geliebtes Schnitzel wegnehmen. Dabei planen das nicht mal die Fundi-Grünen. Viele Linke wiederum tun in ihrem Weltverbesserungsfuror so, als sei jeder, der nicht vom Schnitzel lassen will oder auch mal Haltungsform zwei statt immer nur Bio kauft, automatisch ein unbelehrbarer Tierquäler, dem sein trotziger Rumpsteak-Hedonismus über das Leid der gequälten Kreatur geht. Fleisch ist also rechts, Gemüse links? Beide Seiten unterstellen, ein Konservativer könne kein Vegetarier und ein Linker kein Fleischliebhaber sein.
Der Januar ist, so gesehen, von allen der schlimmste Monat. Die Menschen machen Diätpläne, weil die Völlerei der Weihnachtszeit endlich vorbei ist. Selbst die Fleischesser haben genug von Schnitzelbergen und Gänsefett. Im Supermarkt und in Kantinen wird der „Veganuary“ ausgerufen, ein Monat, in dem sich alle möglichst tierfrei ernähren sollen. Im Januar prallen also zwei Welten aufeinander, das Gute gegen das Böse, Moralpolizisten gegen Freiheitskämpfer, Genussmenschen gegen Disziplinierte. Es ist immer ein Entweder-oder, dazwischen gibt es nichts.
Das liegt auch daran, dass Ernährung viel mit Prägung zu tun hat: Wir essen, wie wir es gelernt haben. Die leckere Wurstscheibe, die wir als Kind immer beim Metzger bekamen; die Fischstäbchen, die Oma immer gemacht hat; das Rindswürstchen auf dem Markt, von dem Papa immer die Zipfel abbeißen musste, weil wir die so eklig fanden: All diese Tiere kriegt man nicht so leicht aus uns heraus. Fleisch schmeckt gut und ist ein toller Proteinlieferant, deshalb essen wir es seit Millionen Jahren. Aber wir haben uns auch selbst auf Fleisch konditioniert wie die Gänse auf Konrad Lorenz. Auch deshalb fühlen sich viele regelrecht bedroht, wenn sie hören, dass zu viel Wurst ihnen schadet: Es geht buchstäblich um ihre Existenz.
Mit einem Kulturkampf am Esstisch kommt man da nicht weiter. Wer seinen Sitznachbarn altklug belehrt, dessen Essen sei unmoralisch, verhält sich arrogant. Wer einen Vegetarier auslacht, weil der ethische und ernährungsmedizinische Fragen ernst nimmt, stellt sich selbst ins Abseits. Beides führt nicht weiter, sondern nur zu Abwehrreflexen und Aggression. Der Vegetarier verliert nicht jede moralische Autorität, wenn er einmal von der Weihnachtsgans kostet. Genauso wird der Fleischesser nicht zum Opfer einer Ökodiktatur, wenn er mal kein Schnitzel bestellt. Es muss auch nicht jeder zum Vegetarier oder gar Veganer werden. Der Umwelt, den Tieren und dem eigenen Körper hilft schon die Mäßigung.
Fleischkässemmeln für einen Euro. Muss das sein?
Dafür gibt es auch ein Wort: Flexitarier. Mehr Gemüse, aber weniger Fleisch und wenn, dann von besserer Qualität. Kein Veganuary, ein Flexanuary. So wie bei unseren Vorfahren, den Jägern und Sammlern. Wenn sie einen Büffel erlegt hatten, reichte der für Wochen – und wenn nicht, mussten sie eben Beeren suchen. Selbst bei unseren Großeltern war der Sonntagsbraten noch ein Luxus, auf den man sich die ganze Woche freute. Heute ist Fleisch allzeit verfügbare Massenware; viele essen Leberkässemmeln oder Rostbratwürste für einen Euro und Billigschnitzel für 1,80 Euro – nicht einmal pro Woche, sondern täglich. Und dann wundern sie sich, dass sie krank werden.
Mäßigung würde auch der Politik guttun. Statt beim Fleisch immer gleich eine Identitätskrise heraufzubeschwören, sollte man lieber eine entschiedenere Lenkungspolitik machen. Man könnte die industrielle Massentierhaltung viel stärker regulieren als bisher (zumindest in Deutschland und Europa) und dafür sorgen, dass Tiere besser gehalten werden müssen. Man könnte endlich die Axt an das europäische Agrarsubventionssystem legen, das nach dem Zweiten Weltkrieg entstand und die Nahrungsversorgung sichern sollte. Es ist aber längst zur Hydra geworden, weil es Massenbetriebe begünstigt und billige Überproduktion subventioniert.
Man könnte Höfe, die nachhaltig wirtschaften, viel stärker fördern als konventionelle und Bauern, welche die Transformation nicht mitgehen können, einen guten Ausstieg ermöglichen. Man könnte uns die Entscheidung für besseres Fleisch erleichtern, indem man es endlich zur Pflicht macht, das Leben aller Tiere von Geburt an lückenlos zu dokumentieren. Nicht nur bei Frischfleisch, sondern auch bei verarbeiteten Lebensmitteln, von der Bratwurst auf der Kirmes bis zur Fertiglasagne im Kühlregal.
Noch wichtiger wäre, das Bewusstsein für ein gesünderes Leben zu stärken. Schon in den Kindergärten und in den Schulen könnten Kinder in einem Fach „Ernährung“ lernen, was zu viel Zucker im Körper anrichtet und wieso verarbeitete Lebensmittel oder Antibiotika-Schweine schädlich sind.
Wer weiß, wie es in einem Schlachthof zugeht und was in die Wurst kommt, der beginnt nachzudenken und prägt später auch seine Kinder anders. Und wer gelernt hat, dass vegetarische Ernährung nicht heißen muss, nur noch Nudeln mit Tomatensoße zu essen, der tut sich im Supermarkt leichter, auch mal Gemüse zu kaufen. Um zu begreifen, wie existenziell diese Ernährungsbildung ist, muss man nicht erst nach Amerika fahren, wo fast die Hälfte der Bevölkerung fettleibig ist.
Freunde von mir kaufen sich manchmal ein Schwein. Oder eine Kuh. Sie wissen, wo das Tier geboren wurde, wo es auf der Weide stand und wo es in Würde stirbt. Und dann fahren sie zum Schlachthof und packen ihren Anteil ins Auto: zehn Kilo Kuh, nicht nur Filet, sondern auch Innereien und durchwachsenes Fleisch für die Suppe. Alles wie früher.
Sie verwerten die Kuh komplett und werfen nicht den Rest weg, der in der Industrie sonst vielleicht die Füllmasse für Wurst wird. Auch das ist Respekt vor dem Tier. Vielleicht mache ich, der naive, inkonsequente, politisch gemäßigte Vegetarier, das im kommenden Jahr auch mal.