Dass sich die Bundesregierung die Welt schönredet, ist nichts Neues und gilt über Parteigrenzen hinweg. Hört man Kanzler Olaf Scholz (SPD) und anderen Angehörigen der Restampel zu, könnte man meinen, Deutschland gehe es gar nicht so schlecht. Dabei sieht die Realität ganz anders aus, das zeigen die Rezession, der höchste Stand an Insolvenzen seit 2015, die Haushaltslöcher, die Energiepreisausschläge, die Dunkelflauten. Auch in der Gesundheits- und Pflegepolitik wird die Misere verschleiert.
Jeder in der Branche weiß, dass der neue Beitragsanstieg in der Pflege um 0,2 Prozentpunkte bei Weitem nicht ausreicht, sondern nur das Schlimmste verhindert: dass die Pflegekassen 2025 pleitegehen. In der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist die Anhebung noch viel höher – und die Augenwischerei noch größer. Das erlebt jeder Versicherte, der Post von seiner Kasse bekommen hat. Er muss im neuen Jahr nicht nur deutlich mehr einzahlen als im alten, sondern auch mehr, als die Politik suggeriert.
Der Bund lässt den allgemeinen Beitragssatz zwar unverändert bei 14,6 Prozent. Dadurch signalisiert Rot-Grün Beitragsstabilität, das Niveau ist seit zehn Jahren unverändert. Der Zusatzbeitrag jedoch, den die Kassen individuell erheben, steigt so heftig wie nie zuvor – sogar noch stärker, als Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angekündigt hat. Noch nie lagen der rechnerische und der tatsächlich erhobene durchschnittliche Zusatzbeitrag weiter auseinander als im gerade begonnenen Jahr 2025.
Zusatzbeitrag steigt fast um die Hälfte
Den statistischen Durchschnittswert ermittelt der Schätzerkreis beim Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) aus der Differenz zwischen den erwarteten Einnahmen und den Ausgaben. Dem Kreis unter BAS-Vorsitz gehören auch Fachleute des Ministeriums und des GKV-Spitzenverbands an. Auf Basis der Ergebnisse hat Lauterbach den durchschnittlichen Zusatzbeitrag für 2025 festgelegt: Er schießt um fast die Hälfte von 1,7 auf 2,5 Prozent in die Höhe. Diese 0,8 Punkte sind mehr als je zuvor seit Einführung des Zusatzbeitrags 2015.
Zusammen mit dem allgemeinen Satz müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer also 17,1 Prozent aufbringen, auch das ist ein Rekord. Die Versicherung ist zudem auf mehr Einkommen zu zahlen, weil die Beitragsbemessungsgrenze um knapp 6,5 Prozent auf 66.150 Euro im Jahr klettert. Die Flucht in die Privatversicherung gestaltet sich schwieriger, da die Pflichtgrenze, bis zu der man in der GKV gefangen ist, ähnlich stark auf 73.800 Euro wächst.
Der durchschnittliche Zusatzbeitrag sagt wenig aus. Verpflichtend ist er nur für eine Minderheit unter den fast 75 Millionen gesetzlich Versicherten, nämlich für Geringverdiener, Bezieher von Bürgergeld, für Auszubildende in Einrichtungen der Jugendhilfe sowie für alle anderen Lehrlinge für ein Arbeitsentgelt von 325 Euro im Monat. Der tatsächlich erhobene Aufschlag ist in den meisten Fällen viel höher als der in Lauterbachs Rechtsverordnung festgeschriebene. Dazu hat die F.A.Z. die Angaben von 94 Kassen herangezogen, die der GKV-Spitzenverband zur Verfügung stellt.
Aufschlag variiert zwischen den Kassen
Als einzige erhebt die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau gar keinen Zusatzbeitrag. Bei den anderen variiert er zwischen 1,04 Prozent bei der EY-Betriebskrankenkasse (BKK) und 4,4 Prozent bei der Knappschaft. Mehr als vier Prozent verlangt sonst nur noch die BKK Mahle des Autozulieferers. Weniger als zwei Prozent verlangen neben den genannten Kassen lediglich die BKK des Energieversorgers EWE, jene des Anlagenbauers Krones und die bundesweit operierende BKK Firmus.
Sechs Kassen liegen genau auf dem vom Bund festgelegten Schnitt von 2,5 Prozent. 24 rangieren darunter, aber 64 darüber, also mehr als zwei Drittel aller Krankenkassen. Es fehlt noch die nach Mitgliedern gewichtete Auswertung des GKV-Verbands, die ein etwas positiveres Bild zeichnen könnte. So fällt auf, dass Deutschlands größte Versicherung, die Techniker-Krankenkasse (TK), mit 2,45 Prozent leicht unter Lauterbachs Durchschnitt liegt. Sie betreut jeden sechsten GKV-Versicherten, fast 11,7 Millionen Personen.
Gleichwohl hat auch die TK deutlich zugelegt, sie musste ihren Zusatzbeitrag mehr als verdoppeln: Er stieg nicht um die von Lauterbach vorgesehenen 0,8 Prozentpunkte, sondern um 1,25 Punkte. Im Durchschnitt aller Kassen berichtet der Spitzenverband von einem Anstieg um einen Prozentpunkt. „Die Abweichung des tatsächlichen durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes von dem per Rechtsverordnung festgelegten ist außergewöhnlich hoch“, sagte Doris Pfeiffer, die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands, der F.A.Z.
Pfeiffer erklärt das mit zweierlei. Zum einen seien die Ausgaben noch stärker gestiegen, als der Schätzerkreis im Oktober angenommen hatte. Zum anderen sähen sich die Kassen gezwungen, ihre Rücklagen wieder aufzufüllen. Mehr als die Hälfte von ihnen seien unter die gesetzliche Mindestreserve von einem Fünftel der Monatsausgaben gerutscht. Um diese Schwelle wieder zu erreichen, haben die Kassen zwei Jahre Zeit. Deshalb und wegen weiter steigender Ausgaben, etwa für die Klinikreform, rechnet Pfeiffer auch für 2026 mit Beitragsanhebungen.
Aber warum sind die Finanzpolster der Kassen abgeschmolzen? „Lange Jahre habe verschiedene Gesundheitsminister darauf gesetzt, die laufenden Ausgaben zu erhöhen und diese Erhöhungen aus den Reserven der Krankenkassen zu finanzieren“, erläutert Pfeiffer. „Unsere Warnung, dass so etwas auf Dauer nicht funktionieren kann, wurde ignoriert.“ Einen Trost für Versicherte gibt es: Steigen ihre Beiträge, genießen sie ein Sonderkündigungsrecht und können zu einer günstigeren Kasse wechseln.