Neuer Verdacht zu den Fluchtwegen

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Zwei Wochen nach dem Attentat von Magdeburg ist die Zahl der offenen Fragen eher größer als geringer geworden. Das gilt sowohl für die Vorgeschichte von Taleb Al A., der die deutschen Sicherheitsbehörden seit Jahren beschäftigt, als auch für das Tatgeschehen selbst: Der 50 Jahre alte Psychiater aus Bernburg raste am 20. Dezember um 19.02 Uhr mit seinem schwarzen BMW X3 in den Magdeburger Weihnachtsmarkt, verletzte dabei 235 Personen und tötete fünf Menschen: einen neun Jahre alten Jungen sowie vier Frauen.

Das eigentliche Tatgeschehen dauerte laut den Ermittlungen nur rund eine Minute, denn um 19.03 kam Taleb Al A. nach mehr als 400 Metern Fahrt vor der Ampel zum Stehen, an der er sein Attentat begonnen hatte. Dort wurde er von einem Polizisten aufgefordert, aus dem Auto zu steigen, und wurde um 19.05 Uhr, auf dem Boden liegend, festgenommen.

Eine Kernfrage lautet weiterhin, warum Taleb Al A. ungehindert in den Weihnachtsmarkt einfahren konnte, obwohl die Behörden ein solches Szenario durchaus auf dem Schirm hatten. Im Sicherheitskonzept des Veranstalters vom 27. November ist zu lesen, dass der Magdeburger Weihnachtsmarkt nicht erst seit dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz im Jahr 2016 „auf Grund seiner Symbolik ein potenzielles Ziel“ für Anschläge darstelle.

In dem 17 Seiten langen Papier, das der F.A.Z. vorliegt, wird festgelegt, dass „Anti-Fahrzeugsperren“ das „Befahren des Magdeburger Weihnachtsmarkt insbesondere für PKWs, Kleintransporter und LKWs erschweren“ sollten. Mittel der Wahl dafür seien drei Tonnen schwere Betonblöcke.

Diese Blöcke, so heißt es aus Sicherheitskreisen zur Erklärung, könnten ein sehr schweres Fahrzeug aber nicht zum Stehen bringen. Dafür müsse man meh­rere Blöcke verbinden. Dies geschieht entweder durch Stahlstangen, durch sogenannte Stahlschäkel – also kurze Schlaufen – oder durch längere Stahlketten, „um Zufahrten flexibel zu sperren“, wie es im Sicherheitskonzept heißt. „Dadurch sind Durchfahrten von befugten Fahrzeugen, wie Rettungsdienst oder Feuerwehr, nach Kettenöffnung jederzeit möglich“. Meh­rere mit der Aufklärung befasste Personen äußern jedoch den Verdacht, dass solche Ketten lediglich auf dem Papier genutzt wurden. „Es gab gar keine Ketten.“

Warum blockierte kein Polizeifahrzeug die Einfahrt?

Der Veranstalter, die Gesellschaft zur Durchführung der Magdeburger Weihnachtsmärkte, reagierte auf eine Anfrage dazu nicht. Die Stadt Magdeburg teilte auf Anfrage mit, dass man das Ergebnis der behördlichen Ermittlungen abwarten wolle und sich „nicht an Spekulationen und voreiligen Schuldzuweisungen“ beteilige. Tatsächlich ist dieses Spiel zwischen den Behörden jedoch längst in Gange. Es geht dabei insbesondere um den Fluchtweg an der Ecke von der Ernst-Reuter-Allee und dem Breiten Weg, über den Taleb Al A. in den Weihnachtsmarkt gelangte.

Laut Konzept des Veranstalters sollte der Fluchtweg vier Meter breit sein. Tatsächlich gab es an der Fußgängerampel jedoch eine zwölf Meter breite Lücke, die durch einen Betonblock unterbrochen wurde, sodass sich zwei rund sechs Meter breite Korridore ergaben.

Besonders intensiv diskutiert wird seit dem Anschlag, warum an dieser Stelle kein Kleinbus der Polizei stand und die Einfahrt blockierte. Das führt mitten hinein in die komplexe Frage, wer eigentlich für die Sicherheit eines Weihnachtsmarktes zuständig ist. Das sachsen-anhaltische Innenministerium hebt hervor, dass nicht die Behörden, sondern der Veranstalter für die Sicherheit zuständig sei und er diese „grundsätzlich ohne deren Hilfe“ gewährleisten müsse.

Das Sicherheitskonzept wurde im November durch die dafür zuständige Landeshauptstadt Magdeburg abgenommen, die jedoch zugleich Mehrheitseigentümer des Veranstalters ist. Bei dem Termin war auch die dem Land unterstellte Polizei anwesend.

Die Polizei hatte für den Weihnachtsmarkt auch eine eigene „polizeiliche Einsatzkonzeption“ erstellt. Diese sah vor, vier Polizeifahrzeuge um den Weihnachtsmarkt zu postieren. Darunter auch dort, wo Taleb Al A. in den Weihnachtsmarkt einfuhr. Das Innenministerium hebt jedoch hervor, dass die Polizeifahrzeuge nicht während der gesamten Öffnungszeiten, sondern nur in den späteren Stunden dort stehen sollten. Die Fahrzeuge seien auch nicht dafür zuständig gewesen, die Zufahrt „permanent zu versperren“ oder bei Bedarf „für Rettungskräfte und Feuerwehr zu öffnen“.

Betonblöcke und eine stark frequentierte Ampel

Berichtet wird auch, dass an der Stelle manchmal selbst in der Kernzeit kein Polizeifahrzeug stand. Auch das lässt sich jedoch erklären: Bei einer Akutlage an einem anderen Ort, wie zum Beispiel einem Tötungsdelikt in Stendal, wurden die Polizeifahrzeuge kurzfristig abgezogen und später durch andere ersetzt.

Zum Zeitpunkt des Attentats stand zwar ein Fahrzeug an der Zufahrt, jedoch nicht an der im Polizeikonzept vorge­sehenen Stelle. Der Mercedes Sprinter stand ein paar Meter weiter in einer Parkbucht an der Ernst-Reuter-Allee. Warum dies so war, wird derzeit aufgeklärt. In Magdeburg kursieren dazu mehrere mögliche Erklärungen. Eine lautet, dass die Polizisten nicht der Ortspolizei, sondern der Landesbereitschaftspolizei angehörten, daher mit der Örtlichkeit nicht vertraut waren, häufiger wechselten und womöglich falsch eingewiesen worden waren.

Es könnte aber auch sein, dass die Polizisten sich in die Parkbucht stellten, weil auch auf dem Gehweg an der Ernst-Reuter-Allee weniger Betonblöcke standen als im Konzept des Veranstalters vorgesehen und sie diese Lücke schützen wollten. Und noch etwas ist von Bedeutung: Die Fußgängerampel über die Ernst-Reuter-Alle gilt als eine der am häufigsten genutzten Ampeln in ganz Magdeburg. Es sei illusorisch und gefährlich, ein Ende des Überwegs mit einer Kette zu versperren, heißt es aus Behördenkreisen. Das beinhaltet aber auch das Eingeständnis, dass es gar keinen kohärenten Plan zum Schutz dieses neuralgischen Punktes gab.

Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg
Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in MagdeburgOSM / F.A.Z.-Karte nhe., sjs.

Und das gilt offenkundig noch für weitere Stellen: Der Fluchtweg aus dem Weihnachtsmarkt am Breiten Weg ist annähernd neun Meter breit. Dort verlaufen zwar Straßenbahnschienen, der Bereich ist für den Autoverkehr gesperrt. Aber Taleb Al A. hätte theoretisch auch dort einfahren können. Für diese breiteste Einfahrtsstelle gab es weder eine Barriere noch den Plan, dort ein Polizeifahrzeug in die Zufahrt zu stellen.

Den Weihnachtsmarkt verlassen hat Taleb Al A. dann über den dritten Rettungsweg an der Hartstraße. Und hier besteht nach F.A.Z.-Informationen ein brisanter Verdacht: Der Betreiber des Weihnachtsmarktes soll sich an den Abgasen des Polizeifahrzeugs gestört haben, sofern es auf der im Polizeikonzept vermerkten Stelle stand. Später gab es dazu auch eine E-Mail, in der allerdings nicht mehr von Abgasen die Rede war. Der Veranstalter nahm dazu auf Anfrage keine Stellung.

Viele Fragen zur Vorgeschichte des Täters

Mindestens ebenso viele Fragen stellen sich zur Vorgeschichte des Attentäters, der seit 2006 in Deutschland lebt. Taleb Al A. beschäftigte seit Jahren unentwegt die Sicherheitsbehörden. Auf einer Sitzung des Innenausschusses des Bundestages verlautete, dass sein Name insgesamt achtzigmal in den Unterlagen auftaucht. Diese hohe Zahl ist aber auch damit zu erklären, dass sich häufig nicht nur eine Stelle, sondern mehrere Behörden mit einem Vorgang beschäftigten. Gleichwohl dachten die Behörden in vielen Fällen zu stark in ihren eigenen Silos.

Warum erhielt Taleb Al A. 2016 Asyl als Islamkritiker und Oppositioneller aus Saudi-Arabien, obwohl er im April 2013 der Ärztekammer in Mecklenburg-Vorpommern bereits einen Anschlag an­gedroht hatte und dafür vom Amtsgericht Rostock verurteilt worden war? Warum wurde er trotz dieser Drohung als Facharzt für Psychiatrie zugelassen und 2020 für suchtkranke Straftäter im Bernburger Maßregelvollzug zuständig?

Laut einem Bericht der Magdeburger „Volksstimme“ hat sich Taleb Al A. dort abenteuerliche Fehlleistungen erlaubt. Er galt als „Dr. Google“, weil er ständig im Internet nachschauen musste. Ist das nicht nach oben gedrungen? Dazu muss man wissen, dass der Maßregelvollzug wegen seiner generellen Überlastung schon seit Jahren eng im Fokus der Landespolitik und des zuständigen Sozialministeriums steht.

In mehreren Verfahren spielte Taleb Al A. eine Rolle

Auch in den Monaten vor dem Attentat beschäftigte Taleb Al A. die Behörden beständig. Zwischen April 2023 und Oktober 2024 gab es nach F.A.Z.-Infor­mationen sieben Ermittlungsverfahren, in denen er eine Rolle spielte. Fünfmal davon war er allerdings selbst der An­zeigenerstatter.

Zunächst behauptete er, ihm sei ein USB-Stick aus dem Brief­kasten gestohlen worden, auf dem Be­weise für Straftaten des saudi-arabischen Staates gespeichert seien. Dann warf er der Führung des Vereins „Säkulare Flüchtlingshilfe“ zweimal sexualisiertes Fehlverhalten vor. Taleb Al A. hatte mit dem Verein, der wie viele neuere Atheisten-Vereinigungen im Umfeld der Giordano-Bruno-Stiftung entstand, zunächst sympathisiert, sich aber später mit ihm überworfen.

Die Säkulare Flüchtlingshilfe stellte im Gegenzug Anzeige gegen Taleb A. wegen Verleumdung und gewann in erster Instanz. Taleb Al A. ging jedoch in Berufung. In der mündlichen Verhandlung dazu Ende Oktober 2024 deutete sich jedoch an, dass er wieder verlieren würde, was Taleb Al A. heftig erzürnte. In den derzeitigen Ermittlungen spielt auch die Frage eine Rolle, ob der Atten­täter womöglich in diesem Zusammenhang geistig völlig aus der Spur geriet. Denn ab Ende Oktober erschien er auch in Bernburg nicht mehr zur Arbeit, ließ sich krankschreiben und nahm Urlaub.

Taleb Al A. wurde auch durch den Rechtsanwalt der Säkularen Flüchtlingshilfe angezeigt, weil er ihn und seine Mitarbeiter bedrohte. Im Zusammenhang mit seinen Anzeigen gegen die Säkulare Flüchtlingshilfe drohte Al A. auch der Kölner Staatsanwaltschaft. Das dortige Polizeipräsidium bat die Kollegen in Sachsen-Anhalt daher um eine Gefährderansprache, die am 28. September 2023 auf einem Polizeirevier im Salzlandkreis erfolgte.

Ein weiteres Verfahren beschäftigte sich mit Drohungen des späteren Attentäters gegen Deutschland in den sozialen Medien. In diesem Zusammenhang gab es fünf versuchte Gefährderansprachen. Die Behörden suchten Taleb Al A. dafür sowohl zu Hause als auch an seinem Arbeitsplatz auf. Der Versuch, eine Durchsuchung zu erwirken, wurde vom Bereitschaftsrichter jedoch zurückgewiesen.

Ein ungewöhnlicher Gefährder

Al A. passte als Islamkritiker offenkundig in keine der üblichen Gefährderschubladen. Die zustän­digen Stellen taten sich bei der Ein­schätzung von Al A. womöglich auch schwer, weil seine Anschuldigungen ge­gen den saudi-arabischen Staat spätestens seit der heimtückischen Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi im Jahr 2018 durch die Machthaber aus Riad nicht einfach als wirre Spinnereien betrachtet werden konnten. Vonseiten des saudi-arabischen Geheimdienstes soll es nach F.A.Z.-Informationen auch sechs Warnungen vor Taleb Al A. gegeben haben, von denen aber nur eine an die Polizeibehörden in Sachsen-Anhalt weitergeleitet wurde.

Die weitere Aufarbeitung des Attentats wird Monate dauern und sich in mehrere Stränge gliedern. Die strafrechtlichen Ermittlungen wurden mittlerweile an die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg ab­­gegeben. Der Prozess könnte irgendwann im Herbst 2025 in Magdeburg beginnen. Zur Vorbereitung werden Gutachten in Auftrag gegeben, die sich mit möglichen Manipulationen des gemieteten Tatfahrzeugs, vor allem aber mit der Schuldfähigkeit von Taleb Al A. befassen.

Daneben gibt es auch Strafanzeigen gegen den Veranstalter, die Stadt Magdeburg sowie die Polizei wegen möglicher Versäumnisse. Die juristischen Hürden für eine Anklage dürften jedoch weit höher liegen als im Fall der Duisburger Loveparade 2010 oder der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021, da es in Magdeburg einen Täter gibt.

Offen ist, in welchem Format die politische Aufarbeitung erfolgt. Am Montag befasste sich der Innenausschuss des Bundestages mit dem Fall, in Sachsen-Anhalt geschah dies zuvor im Ältestenrat. Der Grünen-Innenpolitiker Sebastian Striegel und die Linken-Land­tags­fraktionsvor­sitzende Eva von Angern schließen aus, als Oppositionsfraktionen gemeinsam mit der AfD einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzusetzen, den diese nicht allein erwirken kann. Während von Angern einen Sonderermittler ins Spiel bringt, spricht sich Striegel für eine Aufarbeitung im Innenausschuss des Landtags aus, der sich am kommenden Donnerstag erstmals mit dem Fall befassen soll.

„Ich erwarte, dass das Verantwortungspingpong aufhört und die Landesregierung dort umfänglich Auskunft erteilt“, sagte der Grünen-Politiker. Sollte dies nicht er­folgen, bliebe die Einsetzung eines Unter­suchungs­aus­schusses mit den Stimmen der Regierungsfraktionen. Die Linken-Politikerin von Angern sagt, sie habe mit Blick auf die hohe Opferzahl ein „großes Interesse“ an einem solchen Ausschuss auf Grundlage einer breiten Mehrheit.