Unsere Wahrnehmung ist zu negativ

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Psychologie

Unsere Wahrnehmung ist zu negativ – und das hat Folgen

Aktualisiert am 06.01.2025 – 05:00 UhrLesedauer: 5 Min.

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Der Mensch nimmt negative Informationen stärker wahr als positive. (Symbolbild) (Quelle: Sina Schuldt/dpa/dpa-bilder)

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Es gibt Zeiten, die fühlen sich besonders negativ an. Das vergangene Jahr war so eines. Zu allen Kriegen und Krisen kommt noch hinzu: Menschen nehmen negative Informationen stärker wahr als positive.

Manchmal ist es schwer, all die dunklen Nachrichten des vergangenen Jahres zu verarbeiten. In der Ukraine, im Nahen Osten und an vielen anderen Orten tobten und toben Kriege, die zerstrittene deutsche Bundesregierung zerbrach, in vielen Ländern verwüsteten Jahrhunderthochwasser das Land, beim Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt starben Menschen und bei Abstürzen von Passagierflugzeugen gab es zahlreiche Todesfälle.

All das bleibt im Gedächtnis. Viel eher als die Milliarden Menschen, die sich tagtäglich friedlich begegneten. Oder die unzähligen Flugzeuge, die sicher landeten. Oder auch die guten Nachrichten, etwa dass die Abholzung im Amazonas zurückging oder Deutschland die Fußball-EM im eigenen Land feierte.

Was für das Weltgeschehen gilt, gilt auch im Privaten: Negatives bleibt mehr im Kopf als Positives. Man erinnert sich eher an die eine negative Bemerkung zur neuen Frisur als an die vielen positiven Kommentare dazu.

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Der sogenannte “Negativitätseffekt” hat Vorteile – kann Menschen aber auch bis in die Verzweiflung treiben. (Symbolbild) (Quelle: Jonas Walzberg/dpa/dpa-bilder)

“Während uns ein Wort der Kritik zu vernichten vermag, kann es uns durchaus kaltlassen, wenn uns jemand mit Lob überhäuft. Wir sehen das eine feindselige Gesicht in der Menge, während uns so manches freundliche Lächeln entgeht”, schreiben der US-amerikanische Sozialpsychologe Roy Baumeister und der ebenfalls amerikanische Wissenschaftsjournalist John Tierney in ihrem 2019 erschienenen Buch “Die Macht des Schlechten”.

Schon ein einziges stark negatives Erlebnis könne ein lebenslanges Trauma auslösen, ein Pendant dazu im Positiven existiere nicht, schreiben die beiden. All das nennen sie “Negativitätseffekt” oder “Negativitätsdominanz”, im Englischen “Negativity Bias”.

Baumeister und Tierney bezeichnen das Phänomen in ihrem Buch auch als “verzerrende Macht des Negativen” und beschreiben es als “menschliche Neigung, sich von negativen Ereignissen und Emotionen stärker beeinflussen zu lassen als von positiven”.

Die Psychologen Lucas LaFreniere und Michelle Newman zeigten 2020 in einer Studie, dass die Menge der negativen Emotionen in Menschen in der Regel unverhältnismäßig hoch ist. Mehr als 90 Prozent der Sorgen, die sich Menschen täglich machen, seien völlig nutzlos – denn die Probleme, um die sie kreisen, träten niemals ein.

Seine Ursache scheint der Negativitätseffekt in der Evolution zu haben – denn früher hatte er einen Zweck: Vor Tausenden von Jahren war er überlebenswichtig, weil es für die Menschen damals hochgradig relevant, sich zu merken, welche Früchte schwer verdaulich oder sogar giftig waren, wo Bären hausten oder Raubtiere auf Jagd gingen. Der Fokus auf diese Gefahren hat damals also Leben gerettet.

Heute gilt das zwar auch noch, beispielsweise bei erhöhter Vorsicht beim Autofahren, weil man die Geschichten der Horrorunfälle kennt. Der Effekt ist jedoch auch eine große Gefahr: Die Negativitätsdominanz zerstöre den Ruf von Individuen, da sich auf ihre Fehler konzentriert werde, schreiben Baumeister und Tierney. Er führe Unternehmen in die Pleite, wenn Aktionäre gehört haben, es gehe diesen schlecht.

Der Effekt fördere zudem Stammesdenken, Rassismus, grundlose Ängste und Zorn beispielsweise gegenüber Flüchtlingen, weil sich Geschichten über gefährliche Straftäter unter ihnen eher einprägen als Geschichten über die Friedvollen. Zudem vergifte die Negativitätsdominanz die politische Öffentlichkeit und sorge dafür, dass Demagogen gewählt werden, da diese sich die Ängste und Sorgen der Menschen zunutze machten.

Christian Unkelbach ist Sozialpsychologe an der Uni Köln, der Negativitätseffekt ist eines seiner Kernthemen. Ihm zufolge geht es dabei im Grunde darum, dass negative Informationen im Durchschnitt mehr Aufmerksamkeit von Menschen bekommen als positive. Zudem würden sie tiefer verarbeitet und hätten mehr Einfluss auf unsere Entscheidungen.

Als klassischen Erkläransatz nutzt auch Unkelbach die Evolution: “Nehmen wir extrem vereinfacht an, Vorfahr A achtet mehr auf negative Informationen als Vorfahr B. Vorfahr A entdeckt dann das Raubtier vor Vorfahr B; A entkommt und B wird gefressen.”