Nun ist also in Österreich greifbar, dass eintritt, was bis vor wenigen Tagen noch alle maßgeblichen politischen Kräfte angeblich unbedingt verhindern wollten: Herbert Kickl als Bundeskanzler. Alle außer der FPÖ natürlich, die bald erstmals in Wien den Regierungschef stellen könnte. Noch ist es nicht so weit. Noch müssen die Gespräche zwischen Freiheitlichen und Volkspartei zu einem Koalitionsabkommen führen. Noch müsste dann Bundespräsident Alexander Van der Bellen den FPÖ-Chef tatsächlich „angeloben“.
Aber die ÖVP hat kaum mehr eine andere Option, denn Neuwahlen will sie angesichts der Umfragen dringend vermeiden. Und Van der Bellen könnte Kickl mit der soliden parlamentarischen Mehrheit von FPÖ und ÖVP zusammen die Ernennung nicht mehr verweigern, da er ihn nun schon mit der Regierungsbildung offiziell beauftragt hat.
In Österreich hat man gelernt, mit allem zu rechnen
Es sei denn natürlich, es passierte plötzlich etwas oder es käme zutage, wonach Van der Bellen wieder sagen müsste: „Das ist eine neue Situation.“ In Österreich hat man sich in den vergangenen Jahren daran gewöhnen müssen, mit allem zu rechnen. Aber nach Lage der Dinge läuft alles auf Kickl zu.
An sich sollte es keine Aufregung wert sein, wenn der Anführer der Partei, die in freien Wahlen zur stärksten Kraft gemacht wurde, dann auch die nächste Regierung führt. Auch dann, wenn es ein rechter Politiker ist. Nationale und konservative Positionen dürfen eingenommen werden, und wenn sie in Wahlen legitimiert wurden, dann darf eine Regierung ihre Politik danach richten. Vorausgesetzt natürlich, sie sind nicht extremistisch, das heißt, sie bewegen sich im Rahmen geltenden Rechts und der Verfassung. Zu der gehören in Österreich auch die europäischen Verträge und die Menschenrechtskonvention, unter anderem. Aber dasselbe gilt natürlich auch für linke oder grüne oder liberale Positionen.
Die FPÖ ist in der Nachkriegszeit als „Auffangbecken für Nationalsozialisten“ entstanden, so ist die geläufige Darstellung. Und sie ist nicht falsch. Sie blendet nur aus, dass die Volkspartei und, ja, auch die Sozialdemokratie bald ihre Arme weit für „geläuterte“ Nazis geöffnet haben. Die SPÖ war es auch, die als Erste Regierungspakte mit den Freiheitlichen schmiedete. Zweimal gab es dann auch schwarz-blaue Koalitionen. Auch wenn diese Regierungen stürmisch und vorzeitig endeten, Demokratie und Rechtsstaat sind davon nicht untergegangen. Ein Monopol auf Affären hat die FPÖ auch nicht.
Trotzdem ist der Schwenk jetzt zu Kickl hochproblematisch. Erstens wegen des Vorgangs. Da überbieten sich alle Parteien jenseits der FPÖ gegenseitig, ihn als Gefahr für die Demokratie darzustellen, mit dem man nie und nimmer (wieder) zusammenarbeiten dürfe und werde. Am schrillsten und lautesten erschollen die Absagen aus der ÖVP. Und jetzt diese Kehrtwende. Das ist ein Schlag für die eigene Glaubwürdigkeit, von dem sich die Volkspartei nur schwer erholen wird. Mit dem Personalwechsel an der Spitze ist es da nicht getan. Es war ja die gesamte Parteiführung, einschließlich des neuen Vorsitzenden Stocker, die sich gegen Kickl festgelegt hatte.
Kickl ist immer radikaler geworden
So wie sich die Parteien vorher positioniert hatten, sagte das Wahlergebnis nicht nur aus, dass 29 Prozent für die FPÖ mit Kickl stimmten. Es stimmten auch 71 Prozent dezidiert gegen ihn. Taktische Manöver und Finten sind in der Politik zulässig und manchmal notwendig. Und die ÖVP verweist wohl nicht zu Unrecht auf die Betonhaltung der SPÖ, an der die Zuckerlkoalition gescheitert sei. Aber aus dem Vorwurf kommt sie damit nicht heraus. Man darf sich halt nicht so einmauern, dass man sich selbst die Manövrierfähigkeit nimmt. Das ist eine Lehre, die man übrigens gern auch in anderen Ländern ziehen darf.
Problematisch ist aber schon auch die Personalie Kickl selbst. Provokant und radikal waren auch Haider und Strache. Aber als es für sie aufs Regieren zuging, wurden sie gemäßigter und pragmatisch. Kickl ist hingegen in den vergangenen Jahren immer radikaler geworden. Die Grenze der FPÖ zu extremistischen Identitären, von Strache zu Regierungszeiten errichtet, wenn auch bröckelig, wurde unter Kickl wieder eingerissen.
In der Pandemie konnte man mit guten Gründen viel am Regierungshandeln kritisieren, aber seine Totalverweigerung war unverantwortlich. Als Innenminister ließ er zum Sturm auf das Verfassungsschutzamt blasen, womit auch Österreichs Vernetzung mit Partnerdiensten und damit die Sicherheit litt. Und für die EU-Partner westlich von Orbán und Fico ist die Aussicht auf einen weiteren Schoßhund Putins wenig erbaulich.
Kickl wird nicht allein regieren. Österreichs Demokratie ist gefestigt und hat Gegengewichte. Aber die ÖVP wird viel zu tun bekommen, wenn sie glaubt, ihn einhegen zu können.