Seit in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Radiocarbonmethode zur Datierung archäologischer Funde aufkam, werden Verfahren aus Physik und Chemie bei der Erforschung vergangener Epochen immer wichtiger. Tatsächlich sind sie enorm hilfreich, wenn man es nicht übertreibt. Ein Beispiel für beides ist eine Untersuchung, die soeben in den Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) erschien.
Darin haben Forscher um den Geologen und Gewässerkundler Joseph McConnell vom Desert Research Institute in Reno, Nevada Spuren von Blei in arktischen Eisbohrkernen ausgewertet und dann atmosphärenphysikalische Modelle genutzt, um daraus die Bleibelastung im Europa der Römerzeit abzuschätzen.
Indikator für das Auf und Ab der Wirtschaft
Blei wurde seinerzeit vor allem bei der Gewinnung von Silber aus dem Mineral Galenit alias Bleiglanz emittiert. Silber wiederum war bereits in der Antike eines der wichtigen Währungsmetalle. Daher erlauben die von McConnell und Kollegen erhobenen Daten einen von anderen historischen Quellen unabhängigen Blick auf die Schwankungen der antiken Wirtschaftsaktivität im Laufe der Zeit.
Unter anderem belegt die Studie damit einen fast kompletten Zusammenbruch der Silberproduktion während der Krise der römischen Republik im ersten Jahrhundert vor Christus, sodann einen Boom in der hohen Kaiserzeit und schließlich einen Niedergang im Gefolge der sogenannten Antoninischen Pest der Jahre 165 bis 180 n. Chr., von dem sich die an der Silberproduktion gemessene Wirtschaftsaktivität in Europa erst im Hochmittelalter wieder erholte.
Das ist ein interessanter und wichtiger Befund. Doch er reichte den Autoren offenbar nicht. Denn Blei ist bekanntlich ungesund, unter anderem beeinträchtigt das Schwermetall die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten. Also errechneten McConnell und seine Koautoren aus ihren antiken Luftbelastungswerte mittels aus modernen Daten gewonnener Relationen kurzerhand die Bleiblutwerte der alten Römer und daraus die Konsequenzen für deren Intelligenz: Um 2,5 bis 3 Punkte habe sich der Intelligenzquotient der breiten Bevölkerung infolge der Bleibelastung im Kindesalter in den Kernregionen des Imperium Romanum vermindert.
Aber selbst wenn das so wäre: Was sollen Historiker mit diesen Zahlen anfangen? Welche interessante historische Fragestellung wird damit erhellt? Zumal die Autoren selbst schreiben, dass die Bleibelastung in den Kinderjahren der heutigen Babyboomer die der hohen Römerzeit um das 40-Fache übertrafen. Dies konnten die Forscher aus den gleichen arktischen Eisbohrkerne für die Jahrzehnte vor 1970 ablesen, bevor man Maßnahmen insbesondere gegen die Bleibelastung aus der Nutzung verbleiter Treibstoffe einzuleiten begann.
„IQ“ ist ein Schlüsselreiz
Auch werden die möglichen Folgen des Einsatzes von Bleiverbindungen in der antiken Kosmetik und Kulinarik ja schon lange diskutiert. Und insofern sich diese Debatten nicht zuletzt um die fortpflanzungsmedizinischen Konsequenzen für Familien der höheren Schichten drehen, ist ihre Triftigkeit weitaus plausibler als die von IQ-Werten in der zumeist in einfachen Tätigkeiten im Agrarsektor beschäftigten Massen. Historiographisch Handfestes ist aber auch dabei bislang nicht herausgekommen.
So steht zu befürchten, dass die IQ-Rechnungen in der „PNAS“-Publikation ein anderes Publikum beglücken sollen als professionelle Historiker. Natürlich verkneifen sich die Autoren die These, das Römerreich sei infolge luftverschmutzungsbedingter Verblödung untergegangen. Aber unverantwortlicherweise überlassen sie es ihren Lesern, solche Schlüsse zu ziehen.