Schon an seinem ersten offiziellen Wahlkampftag greift Olaf Scholz zur schärfsten Waffe, die er jenseits des Verhandlungstisches hat. Es ist nicht die Richtlinienkompetenz, es ist die Kümmerkompetenz. Das passiert in Lünen, einem Ort in Westfalen, 88.000 Einwohner. In einem großen Veranstaltungssaal mit maritimen Malereien an den Wänden. Das Parkett sieht aus, als würde hier oft getanzt. Lünen ist also ein Ort, an dem „ganz normale Leute“ leben, wie Scholz kürzlich die Adressaten seiner Politik nannte.
Ein Mann meldet sich, er sitzt im Rollstuhl. Er erzählt, er habe einen Job im ersten Arbeitsmarkt im Lebensmittelhandel. Aber sein Rollstuhl gehe kaputt, und er bekomme nicht rechtzeitig einen neuen. Scholz gibt sich beeindruckt. Von dem Problem habe er noch nie etwas gehört, schon deswegen habe sich die Veranstaltung gelohnt.
Scholz spricht von einer „Heldentat“, die der Mann vollbringe. Dann schaut er den örtlichen Bundestagsabgeordneten an, der neben ihm auf der Bühne steht, und sagt: „Wir beide werden uns darum kümmern, dass die Sache geklärt wird.“ Applaus.
70 Termine in 40 Tagen
Gerhard Schröder, Scholz’ sozialdemokratischer Kanzlervorgänger, demonstrierte seine Macherattitüde einst an jedem Schlagloch, über das sich Bürger verärgert beugten. Alles wurde zur Chefsache. Scholz ist eigentlich nicht der Typ für Prüfaufträge und persönliche Versprechen. Aber jetzt ist Wahlkampf. Es bleibt nicht viel Zeit. Und man kann nicht gerade behaupten, dass sein bisheriges Vorgehen Scholz und der SPD Erfolg gebracht hätte.
Also hat sich Scholz ein sportliches Programm vorgenommen: In den gut 40 Tagen bis zum Wahltermin sind 70 Termine in mehr als 50 Städten geplant. Für Scholz geht es um nahezu alles, aber auf jeden Fall um das politische Überleben. Kanzler oder nichts, darüber entscheiden diese Tage. Und der erste Tag des offiziellen Wahlkampfs vermittelt schon einen guten Eindruck davon, was im Land so los ist.
Es ist Montagvormittag, einem Winterwahlkampf angemessene minus vier Grad und Sonnenschein, der Lokschuppen in Bielefeld ist gut geheizt. Es ist der erste von drei Wahlkampfterminen an diesem Tag. 500 Leute passen in den Lokschuppen, 1000 wollten einen Platz. Vor der Tür gibt es eine kleine Demo, es geht um den Krieg in Gaza, Deutschland unterstütze dort einen Genozid, heißt es.
Geleitet wird die Veranstaltung drinnen von einem örtlichen Radiomoderator, der das Publikum bittet, gleich spontan aufzuspringen und frenetisch zu klatschen, wenn Scholz den Saal betritt. Im Publikum sitzen zu dieser Zeit hauptsächlich Menschen vor und nach dem Arbeitsleben, Studenten und Rentner. Scholz kommt rein, die Leute stehen tatsächlich auf und machen Handyfotos vom Kanzler.
Scholz begrüßt Wiebke Esdar, die SPD-Bundestagsabgeordnete aus Bielefeld. Ausgerechnet Esdar. Sie gehörte zu den mächtigsten Unterstützern von Verteidigungsminister Boris Pistorius im SPD-internen Vorwahlkampf um die Kanzlerkandidatur. Das Thema spielt in der SPD aber gerade keine Rolle mehr – und die Bürger interessiert es auch nicht, zumindest stellen sie dazu keine Frage.
Trotz des Abwärtstrends ist die SPD noch eine Volkspartei
Scholz hält keine Rede, es geht gleich mit den Bürgern los. Thema Steuern. Scholz erinnert daran, warum er die Koalition hat platzen lassen. Dass es erhebliche Meinungsverschiedenheiten gegeben habe bei der Frage, wie verschiedene Dinge finanziert werden sollten. „Irgendjemand muss die Zeche zahlen“, diesen Satz wird Scholz bei all seinen Terminen irgendwann mal sagen. Er findet, nur die SPD sage ehrlich, wie und von wem die Zeche gezahlt werden müsse.
Eine Frage zur Gefahr des Rechtsextremismus, dann eine zur Versorgung von Hebammen. Plötzlich springt eine junge Frau im mittleren Zuschauerblock auf, rote Farbe an den Händen. Sie brüllt. Wegen der Unterstützung Israels habe die Bundesregierung Blut an den Händen. „Das war ein fürchterlicher Terrorangriff“, brüllt Scholz fast zurück. Das Publikum applaudiert dem Kanzler lautstark. Sicherheitsleute führen die Störerin aus dem Saal. Scholz kehrt wieder in ruhiger Tonlage zu der Hebamme zurück, die sich eine bessere Versorgung wünscht. Es soll nicht die letzte Störaktion an diesem Tag bleiben.
Im Publikum sitzen Bürger, einige sind SPD-Mitglied. Andere sind Mitglieder bei der AWO, einer Gewerkschaft oder organisiert im Gaststättenverband. Hier wird deutlich, dass die SPD trotz aller Abwärtstrends noch immer eine Volkspartei ist, breit verankert in der Gesellschaft. Von der man erwartet, dass sie zu jedem Thema etwas sagen kann.
Scholz lebt auf in diesen Fragerunden, er hat sie auch in den vergangenen drei Jahren regelmäßig veranstaltet. Auch die kleinteiligsten Themen wecken sein Interesse, das ist spürbar. Verstecken tut sich Scholz also wirklich nicht. Für die Strategen im Willy-Brandt-Haus in Berlin ist es deswegen ein großes Rätsel, warum der Kanzler und Kandidat so schlechte Persönlichkeitswerte hat.
Stehender Applaus auch ohne Aufforderung
Die Frage einer Gewerkschafterin gibt ihm in Bielefeld die Möglichkeit, an seine Vergangenheit als Arbeitsrechtsanwalt zu erinnern. Ansonsten antwortet Scholz meist technisch, in seinen Ausführungen gibt es keine Anekdoten oder symbolisch eingesetztes Personal. Einzig ein alleinerziehender Vater von drei Kindern begegnet einem an diesem Montag mehrfach, den Scholz als Beispiel dafür anführt, dass das Krankenkassensystem weiterhin solidarisch sein müsse.
Zum Abschluss seines Termins hebt Scholz dann doch noch zu einer kurzen Rede an. Es geht um die Themen, nach denen die Bürger nicht gefragt haben, die er aber wähnt wissen will. Etwa die Unterstützung für die Ukraine. „Ich lasse mir von niemandem sagen, dass das keine wichtige Aufgabe wäre“, ruft er in den Saal. Niemand hatte das behauptet. Nach einer Stunde ist Schluss, aber jeder der will, bekommt noch ein Selfie mit dem Kanzler. Alle wollen.
In Lünen, wo Scholz kurze Zeit später dem Mann im Rollstuhl seine Hilfe verspricht, gibt es auch ohne vorherige Aufforderung stehenden Applaus für den Kanzler. Eine kleine Gruppe Demonstranten hat bis zu seinem Eintreffen über Lautsprecher vor dem Hansesaal gewettert, dass Scholz der Kanzler mit den meisten Skandalen sei, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein Schuft und was früher als „bisschen kalt“ durchgegangen sei, heute „Klimawandel“ heiße.
Scholz’ Mahnung an die Zuhörer
Drinnen meldet sich eine Frau, sie sei impfgeschädigt, „eine von Millionen“. Scholz verteidigt die Maßnahmen während der Coronapandemie. Man müsse sich um diejenigen kümmern, die nach der Impfung Probleme hätten, aber Millionen seien es nicht. Dann ein Ritt zur Vermögenssteuer, dann zur Frage, ob Beamte in das gesetzliche Versicherungssystem einzahlen sollten. „Alles kommt vom alten Fritz“, sagt Scholz und meint damit ausnahmsweise mal nicht Friedrich Merz.
Der taucht in Scholz’ Antworten ohnehin nie auf, höchstens erwähnt er die CDU und die CSU, kritisiert deren Steuersenkungsversprechen als nicht finanzierbar und mahnt seine Zuhörer: „Nehmt ernst, was in den Wahlprogrammen steht.“ Ansonsten verteidigt er das Berufsbeamtentum und will da nicht ran. Da schütteln einige im Publikum den Kopf.
Es ist dunkel geworden, aber der Tag noch lange nicht vorbei. Auf der Bühne in der Jovel Music Hall in Münster ist die Vorband schon am Mikrofon. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze steht unter einer großen Discokugel. Ein Genosse zitiert Angela Merkel. Die habe in Sachen Verrohung gesagt, man müsse auf die Sprache aufpassen. Schulze nickt. Auf dem SPD-Parteitag am Wochenende war Scholz von der Bühne herab bei der Begrüßung in eine Reihe diverser Gäste gestellt worden. Hier, in Münster, ist er der Star des Abends.
Wieder sagt Scholz zu Beginn einige Worte zur Ukraine, wieder brüllt jemand aus dem Publikum den Kanzler an und wirft ihm die Israelpolitik der Bundesregierung vor. Diesmal ist es ein Mann.
Dann wird Scholz eine Frage zum Tempolimit gestellt. Die SPD ist dafür, schon lange, das sagt auch Scholz. Dann erklärt er, es habe bislang keine gesetzgeberische Mehrheit gegeben, um es einzuführen. Nach weiteren Fragen und Hunderten Selfies ist auch diese Veranstaltung vorbei, der Tag für den Kanzler aber noch nicht. Er muss von der Wahlkämpfer- in die Kanzlerrolle zurückschlüpfen, denn er fliegt noch nach Helsinki, zum Treffen der NATO im Ostseeraum.
So viel Applaus dürfte Scholz an einem Tag schon lange nicht mehr bekommen haben. Doch als er ins Flugzeug steigt, erscheint eine neue Umfrage. Die SPD verliert einen halben Prozentpunkt.