Streit bei den Grünen: Trittins Erben regieren durch

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Wintersonne über Göttingen; viele Menschen stehen in einer langen Reihe vor der Stadthalle und begehren Einlass. Doch nur die Hälfte von ihnen wird einen der rund tausend Plätze in der Halle bekommen. Denn der Andrang zur Veranstaltung mit Robert Habeck ist viel größer als angenommen. Es läuft gerade gut für den Kanzlerkandidaten der Grünen. Nach neuen Zahlen der Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des ZDF hat seine Partei gerade die SPD überholt und wird dabei von den steigenden Beliebtheitswerten Habecks gezogen. Gleichzeitig liegen die Unionsparteien weiterhin mit großem Abstand vorne. Eine Koalition mit ihnen bleibt die vielversprechendste Machtoption für Habeck.

Doch gerade in der CSU gibt es eine ausgeprägte Aversion gegen die Grünen. Und die neueren Entwicklungen bei den niedersächsischen Grünen, bei denen Habeck in Göttingen zu Gast ist, könnten bei einem knappen Wahlausgang sogar als Argument gegen Schwarz-Grün genutzt werden. Denn bei der Listenaufstellung Mitte Dezember in Hannover wurde der Realo-Flügel, dem Habeck angehört, nahezu ausradiert.

Zwar gilt der niedersächsische Grünen-Landesverband seit jeher als wichtigste Hochburg der Parteilinken. Die Besetzung sämtlicher sicherer Listenplätze mit eigenen Truppen aber ist ein Novum und bleibt auch nicht ohne Widerspruch. „Ich bin sehr unzufrieden mit der Listenaufstellung“, sagt Stefan Wenzel, Habecks Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Der 62 Jahre alte Agrarökonom galt jahrelang als Anführer der Realos in Niedersachsen, tritt aber bei der Bundestagswahl nicht noch einmal an.

Der Andrang ist groß: Vor der Göttinger Stadthalle stehen Menschen Schlange, um Habeck zu sehen.
Der Andrang ist groß: Vor der Göttinger Stadthalle stehen Menschen Schlange, um Habeck zu sehen.Picture Alliance

Die Hoffnung der Realos ruhte deshalb vor allem auf der langjährigen Europaabgeordneten Viola von Cramon, die sich im Wahlkreis Göttingen um das Erbe des einflussreichsten niedersächsischen Grünen Jürgen Trittin bewirbt. Cramon, eine 54 Jahre alte Agrarökonomin, hat sich in Brüssel als Osteuropa-Politikerin einen Namen gemacht. Schon vor Kriegsbeginn hatte sie eine stärkere Unterstützung der Ukraine angemahnt. Sie verfügt damit über ein durchaus gesuchtes Profil, zumal außenpolitische Expertise im Bundestag eher rar gesät ist. Bei der Aufstellung als Direktkandidatin im Wahlkreis konnte sich von Cramon im September auch gegen ihre Mitbewerberin Karoline Otte durchsetzen.

Im November drehten sich die Verhältnisse auf einer „Regionalkonferenz“ dann um. Dort wurde nicht von Cramon, sondern die nach ihrer Niederlage auf den Nachbarwahlkreis im Harz ausgewichene Otte für einen aussichtsreichen Listenplatz nominiert. Und auf eine solche Platzierung kommt es bei den niedersächsischen Grünen an, die bei einer Bundestagswahl noch nie ein Direktmandat errungen haben.

Unmut bei den Realos

Bei der Listenaufstellung in Hannover wurde Otte also auf den sicheren Platz sieben gewählt. Von Cramon kandidierte für Platz acht, unterlag, trat dann für den noch wackligeren Platz elf an und unterlag wieder. Der erste Vertreter der Realos auf der Liste ist mit Ottmar von Holtz auf dem wenig aussichtsreichen Platz zwölf zu finden, nachdem der Bundestagsabgeordnete zuvor im Kampf um die Plätze acht und zehn unterlag. Die vorderen Listenplätze werden nun von etablierten Politikern des linken Flügels besetzt oder durch Mitglieder der Grünen Jugend, die noch weiter links stehen.

Die Konstruktion, die sicheren Listenplätze vorab über Regionalkonferenzen zu verteilen, sorgt bei den Realos für Unmut. Diese neuen Gremien seien in der Satzung nicht vorgesehen, lautet ein Argument. Zudem wird darauf hingewiesen, dass die Parteilinke in Niedersachsen zwar auch unter den Mitgliedern in der Mehrheit sei. Dennoch gehe es nicht an, dass geschätzte 60 Prozent der Mitglieder 100 Prozent der Listenplätze für sich beanspruchen. Dann habe man ein Problem im parteiinternen Umgang. „Die Winner-takes-it-all-Mentalität in Teilen der Landespartei schwächt uns“, sagt Stefan Wenzel.

Folgen auch im Bund?

Der Durchmarsch der Parteilinken wurde von den führenden Grünen im Land aber nicht verhindert, weder durch die stellvertretende Ministerpräsidentin Julia Willie Hamburg, die parteiintern als ausgleichender Faktor gilt, noch vom niedersächsischen Finanzminister Gerald Heere, dem bald womöglich letzten niedersächsischen Realo in einem herausgehobenen Amt. Übereinstimmend wird berichtet, dass stattdessen Umweltminister Christian Meyer die Strippen zog, der auch viel mehr Energie in die Parteiarbeit investiere. Meyer tritt damit die Nachfolge von Jürgen Trittin an, der die niedersächsischen Grünen über Jahre als stramm linken Landesverband etablierte.

Meyer bestreitet, dass er vorrangig ehemalige Mitarbeiter und Anhänger aus der Grünen Jugend mit aussichtsreichen Plätzen versorgt habe. Auch die Einführung der „Regionalkonferenzen“ sieht er in einem ganz anderen Licht als die Realos: „Früher haben die Flügel die Listen zusammengestellt, jetzt die Regionen – also haben die Flügel jetzt weniger Einfluss.“ Andere Vertreter des linken Flügels erwidern die Klagelieder der Realos auch mit dem Hinweis, dass diese zu wenig geeigneten Nachwuchs hervorbrächten und bei Viola von Cramon auch persönliche Differenzen eine Rolle gespielt hätten.

Beim Landesparteitag: die niedersächsischen Grünen Miriam Staudte. Gerald Heere, Julia Willie Hamburg und Christian Meyer
Beim Landesparteitag: die niedersächsischen Grünen Miriam Staudte. Gerald Heere, Julia Willie Hamburg und Christian MeyerPicture Alliance

Die entscheidende Frage für die Zeit nach der Bundestagswahl dürfte jedoch sein, ob die linke Liste aus Niedersachsen die Koalitionsfähigkeit der Grünen in Berlin beeinträchtigt. Wie entschlossen der linke Flügel aus Niedersachsen seine Dogmen verteidigt, wurde bereits im November 2022 deutlich, als der Bundestag mitten in der Energiekrise namentlich über die viermonatige Betriebsverlängerung der Kernkraftwerke abstimmte. Neun Abgeordnete der Ampel stimmten mit Nein, acht von ihnen kamen aus der grünen Landesgruppe Niedersachsen.

Schon zuvor war der Druck auf Habeck, beim Aus für die Kernkraftwerke hart zu bleiben, vor allem von der niedersächsischen Parteilinken um Jürgen Trittin gekommen. Und es spricht nicht für eine Aufweichung dieses kompromisslosen Kurses, dass der linke Flügel inzwischen die volle Kon­trolle über die Liste übernommen hat. Christian Meyer bestreitet allerdings, dass es ihm um ein Signal an Habeck geht. „Das ist keine Anti-Robert-Liste“, sagt Meyer und hebt hervor, dass er mit dem Kanzlerkandidaten in gutem und ständigem Austausch stehe.

In der Göttinger Stadthalle wird am Samstag jedoch deutlich, wie groß die innerparteilichen Differenzen sind. Viola von Cramon wirbt vor der Rede Habecks als Direktkandidatin mit dem Argument um Stimmen, dass sie „nicht zur Polarisierung neige“. Die politische Mitte in Deutschland müsse „koalitionsfähig bleiben“. Dann übergibt sie das Mikrofon an Karoline Otte, die im Bundestag gegen verlängerte AKW-Laufzeiten gestimmt hatte. Otte spricht zunächst vor allem über soziale Themen und dankt dann „unseren beiden Klimaministern“: Robert Habeck auf Bundesebene und Christian Meyer auf Landesebene. Das Signal ist klar: Robert Habeck mag die Grünen gegenwärtig zu guten Werten in den Umfragen führen. Wichtig ist aber auch, wer in der Partei die Listenplätze verteilt.