Erleben die Grünen einen neuen Veggie-Day-Moment?

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Videos, Erklärtexte in sozialen Netzwerken, Interviews: Die Grünen bemühen sich derzeit auf allen Kanälen, die Auf­regung über die von ihnen geplanten Sozialbeiträge auf Kapitalerträge zu dämpfen. Der grüne Kanzlerkandidat Robert Habeck hatte die Welle am Sonntagabend ausgelöst, als er in einem Fernsehinterview beim Thema Krankenversicherung sagte, auch Kapitalerträge sollten sozialversicherungspflichtig sein. Seitdem fragen sich Millionen Sparer in Deutschland, was eine solche Änderung für sie bedeuten würde.

Sowohl am Montag als auch am Dienstag konnte die Partei zunächst keine Antwort auf die Frage geben, wen genau sie zur Kasse bitten will. Ko-Parteichef Felix Banaszak versicherte, Kleinsparer („Tante Gisela und ihr ETF“) hätten nichts zu befürchten. In welcher Höhe Kapitalerträge beitragsfrei bleiben sollen, sagte er jedoch nicht. Habeck verwies am Dienstagnachmittag auf der Plattform X auf „jemand, der mit Aktien Millionen verdient“. Am Mittwochmorgen gab Fraktionschefin Katharina Dröge dann eine neue Größenordnung: „Es geht um die Menschen, die eine Million auf dem Konto haben und hohe Erträge darauf bekommen und die deshalb nicht mehr arbeiten müssen“, sagte sie im Deutschlandfunk. Auch die Ko-Parteichefin Franziska Brantner beteuerte am Mittwochabend in der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“, dass es Kleinsparer nicht treffen soll. „Ich gebe Ihnen jetzt nicht die Zahl, die Sie gerne hätten“, sagte Brantner allerdings.

Inzwischen hat die Partei auch deutlich gemacht, dass es ihr nicht um eine Änderung im bestehenden System gibt. Eine solche hätte nämlich vor allem jene gesetzlich Versicherten getroffen, die mit ihren Einkünften unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze von 66.150 Euro im Jahr liegen, während Gutverdiener ohnehin schon den monatlichen Maximal­beitrag bezahlen oder privat versichert sind.

Auf den Weg in die Bürgerversicherung

Ziel ist, wie sowohl Habeck als auch Dröge nun betonen, die Einführung einer Bürgerversicherung, in die alle Menschen mit allen Einkommensarten einbezogen werden. Die privaten Krankenversicherungen könnten zwar bestehen bleiben, sagt Dröge. Die Beiträge für ihre Versicherten würden dann aber nach denselben Regeln erhoben wie in der gesetzlichen Krankenversicherung.

Im Gespräch mit der F.A.Z. konkretisiert Dröge die Pläne noch einmal: „Wer zum Beispiel eine Million anlegen und von seinen Kapitaleinkünften leben kann, der soll auch Beiträge für die Kranken­versicherung zahlen. Wer überwiegend erwerbstätig ist und zusätzlich fürs Alter vorsorgt, den soll das nicht treffen“, sagt sie. Einen konkreten Freibetrag will Dröge zwar auch nicht nennen. Anhand der von ihr genannten Million lassen sich aber Rückschlüsse auf die Größenordnung ziehen. Unterstellt man eine durchschnitt­liche Rendite von fünf Prozent, käme man bei 50.000 Euro heraus, bei einer Rendite von acht Prozent bei 80.000 Euro.

Enormer Widerstand

Für die Grünen kommt die Debatte zur Unzeit. Gerade erst hatte sich die Partei darüber gefreut, in manchen Umfragen an der SPD vorbeigezogen zu sein und den beliebtesten unter den vier Kanzlerkandidaten zu haben. Nun stehen die Grünen dafür, die ohnehin schon hohe Steuer- und Abgabenlast für die Bürger noch weiter in die Höhe treiben zu wollen. Dröge stellt sich diesem Eindruck entgegen: „Es geht uns nicht nur darum, mehr Einnahmen ins System zu bringen. Natürlich müssen auch die Ausgaben sinken. Nur so ist eine nennenswerte Entlastung der Arbeitseinkommen möglich.“

Die Situation erinnert an die nach dem Bekanntwerden von Habecks Heizungsplänen im Frühjahr 2023 und an die Veggie-Day-Debatte 2013. Damals wie heute wähnte sich die Partei auf der richtigen Seite und wirkte überrascht von dem Wucht des Widerstands. Wer kann schon etwas dagegen haben, einen Tag in der Woche auf Fleisch zu verzichten, auf klimafreundliche Heizungen umzusteigen oder Aktionäre zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung heranzuziehen?

Was sich auch ähnelt, ist die Reaktion auf Kritik. Beim Gebäudeenergiegesetz suchte Habeck zunächst den Fehler nicht bei sich, sondern beschwerte sich öffentlich darüber, dass der Gesetzentwurf aus der Koalition an Journalisten durchgestochen worden sei. Auch jetzt in seinem Video zu den Kapitalerträgen geht er zum Gegenangriff über. Union und FDP hätten seinen Vorschlag bewusst missverstanden. „Immer wenn es darum geht, Geld zu nutzen für Solidarität, verteidigen sie die Millionäre und die Superreichen.“

Die meisten Aktionäre sind nicht reich

Veronika Grimm, die als eine der fünf „Wirtschaftsweisen“ die Bundesregierung berät, kommentierte die Debatte so: „Interessant: Wenn man Aktionäre sagt, triggert man in Deutschland: Ah – die Reichen! Genau das ist das Problem.“ Nach den am Mittwoch vorgestellten Zahlen des Deutschen Aktieninstituts zählt aber nur jeder achte Aktionär oder Aktienfondsbesitzer in Deutschland zur Gruppe der Besserverdienenden mit mehr als 4000 Euro monatlichem Nettoeinkommen. Die größte Gruppe der Aktionäre verdient zwischen 2000 und 3000 Euro netto im Monat. Die zweitgrößte Gruppe liegt in der Einkommensklasse zwischen 1000 und 2000 Euro.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, dessen SPD wie die Grünen ebenfalls ein Verfechter der Bürgerver­sicherung ist, stellte sich am Mittwoch gegen Habecks Pläne. „Ich halte es für falsch, jetzt noch zusätzliche Abgaben auf Erspartes zu nehmen“, sagte er in Berlin. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat aus­gerechnet, dass ein Anleger mit 5000 Euro Kapitalertrag im Jahr (der zum Beispiel 100.000 Euro investiert hat und fünf Prozent Rendite erzielt) schon heute 1055 Euro an Steuern abführen müsse. Fielen auch noch Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge an, gingen unter Berücksichtigung des Sparerfreibetrages weitere 852 Euro an den Staat. Die Rendite schrumpfe so auf nur noch 3,1 Prozent, schreibt das Institut.

Die Grünen rechtfertigen ihre Pläne damit, dass durch ein stärkeres Heranziehen von Anlegern sowohl Arbeitnehmer als auch Unternehmen entlastet würden. Ähnlich sieht es der Deutsche Gewerkschaftsbund: „Robert Habeck liegt richtig, Arbeitnehmer brauchen dringend Ent­lastung“, sagte Vorstandsmitglied Anja Piel: „Der DGB fordert schon lange, Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung auch von Kapitaleinkünften zu erheben, weil das gerechter ist.“

„Wir haben ein Ausgabenproblem“

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger hält dagegen: „Ich höre von Politikern immer nur: Wir haben zu wenig Geld, wir brauchen mehr Schulden, wir brauchen höhere Steuern. Nein, wir haben kein Einnahmenpro­blem, wir haben ein Ausgabenproblem.“ Das Geld werde für die falschen Dinge ausgegeben: „Das müssen wir ändern.“ Der Vorschlag der Grünen sei „das Ende jeder privaten Altersvorsorge“.

Im Entwurf zum Wahlprogramm der Grünen heißt es, „auf dem Weg hin zu einer Bürgerversicherung werden wir neben den gesetzlich Krankenversicherten auch die Privatversicherten in den solidarischen Finanzausgleich des Gesundheitssystems einbeziehen.“ Und wei­ter: Zur Beitragsbemessung sollten auch Kapitaleinnahmen herangezogen werden. Schon in früheren Wahlkämpfen hat die Partei mit dem Konzept einer Bürgerversicherung geworben, in die auch Beamte, Selbständige und Gutverdiener einzahlen müssen und in der auch auf Zins- und Mieteinkünfte Beiträge erhoben werden.

Die Pläne damals sahen vor, dass die Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung auf den höheren Wert aus der Rentenversicherung angehoben werden sollte. Die beitragsfreie Mitver­sicherung von Ehepartnern sollte es nur noch zeitlich befristet für die Betreuung kleiner Kinder oder die Pflege von An­gehörigen geben. Entlastet werden sollten die Beitragszahler durch den Wegfall der Zusatzbeiträge. Wirtschaftsverbände warnten damals vor einer Mehrbelastung in Milliardenhöhe, Ärzteverbände befürchteten Einnahmeausfälle in ähnlicher Größenordnung. Derzeit sind etwa zehn Prozent der Bürger in Deutschland privat versichert.