Mindestens 77 Menschen seien im Gazastreifen durch israelische Angriffe getötet worden, nachdem die Einigung auf einen Gaza-Deal verkündet wurde, hieß es in Berichten der teils von der Hamas geführten Behörden sowie von Bewohnern des Gazastreifens am Donnerstag. Unter den angegriffenen Zielen waren demnach eine Suppenküche, Wohnhäuser, eine Schule, eine Flüchtlingsunterkunft und Ausgabestellen von Hilfsgütern.
Das Bangen für die Menschen in dem Küstenstreifen, in den von Raketenbeschuss bedrohten umliegenden Gebieten sowie für die Familien der in Gaza festgehaltenen Geiseln dürfte noch bis Sonntag anhalten – mindestens. An diesem Tag, um Viertel nach zwölf Uhr mittags, soll die Feuerpause einsetzen, die Teil der zwischen Israel und der Hamas erreichten Vereinbarung ist. Nicht selten in solchen Konflikten ereignen sich kurz vor dem Beginn einer vereinbarten Waffenruhe besonders heftige Kämpfe, weil beide Seiten die letzte Gelegenheit nutzen wollen, militärische oder propagandistische Erfolge zu erzielen.
Dennoch gingen am Mittwochabend vielerorts zahlreiche Menschen auf die Straßen, um zu feiern: im Gazastreifen, im Westjordanland und in Israel. Zum ersten Mal seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 schien ein Ende der Kämpfe wirklich in greifbare Nähe gerückt zu sein – nach mehr als 15 Monaten eines Kriegs, der zu Zehntausenden Toten und schier unvorstellbarer Verwüstung geführt hat und der weltweit politische und gesellschaftliche Verwerfungen zur Folge hat.
Ein „bittersüßes“ Abkommen
Die Freude mischte sich vielerorts mit Besorgnis, Lob stand neben Kritik. In Israel beschrieb der Oppositionspolitiker Avigdor Lieberman die Gefühlslage treffend als „bittersüß“. Süß sei das Abkommen, „weil wir Zivilisten, die als Geiseln genommen wurden, zurückkehren sehen werden“. Und bitter, weil die Ausweitung von Hilfslieferungen in den Gazastreifen der Hamas zugutekommen werde. „Wir müssen verstehen, dass die Hamas niemals die Macht abgeben und die militärische Aufrüstung nicht aufgeben wird“, sagte der als Hardliner geltende Lieberman.
So weit, dass solche Urteile begründet gefällt werden könnten, ist es aber noch lange nicht. Erst einmal muss das Abkommen halten, erst einmal muss es überhaupt greifen. Schon am Donnerstagmorgen wurde klar, dass es bis Sonntagmittag noch ein weiter Weg ist. „Dieser Deal wird uns hoffentlich Frieden bringen“, hatte Qatars Ministerpräsident Muhammad Bin Abdulrahman Al Thani am Mittwochabend in Doha gesagt, als er im Namen der Vermittlerländer Qatar, Ägypten und Amerika die Einigung verkündete. Keine zwölf Stunden nach seiner Pressekonferenz waren schon die ersten Probleme aufgetaucht.
Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu warf der Hamas vor, dass sie sich nicht an die Einigung halten wolle. Die Islamisten stellten Teile der erzielten Vereinbarung infrage, „um in letzter Minute Zugeständnisse zu erpressen“, hieß es in einer Pressemitteilung seines Büros. Details wurden darin nicht genannt, aber Netanjahu verband die Kritik mit einer Drohung: „Das israelische Kabinett wird erst dann zusammentreten, wenn die Vermittler Israel mitteilen, dass die Hamas alle Elemente der Vereinbarung akzeptiert hat.“ Die Islamisten wiesen den Vorwurf zurück: Der sei erfunden, sagten mehrere Vertreter; die Hamas stehe zu dem Abkommen.
Schon zuvor hatte Netanjahus Büro mehrere Erklärungen abgegeben, in denen die Ergebnisse der Verhandlungen kommentiert wurden. Gegen Mitternacht am Mittwochabend, nachdem die Einigung schon verkündet worden war, hieß es mahnend, es müssten immer noch „letzte Details“ geklärt werden. Erst danach werde der Ministerpräsident offiziell zu der Einigung Stellung nehmen. Und in zwei weiteren Mitteilungen wurde (selbst)lobend festgehalten, dass Netanjahu Versuchen der Hamas, verschiedene Regelungen in letzter Minute zu ihren Gunsten zu verändern, standhaft widerstanden habe.
Wird Marwan Barghouti freikommen?
Einer der Punkte des Abkommens, die umstritten sind oder waren, ist offenbar die Identität der palästinensischen Häftlinge, die gegen die Geiseln ausgetauscht werden sollen. Die Zahlen sind in der Vereinbarung kleinteilig geregelt: Beispielsweise sollen in der ersten Phase des Abkommens für jede männliche Geisel im Alter von mehr als 50 Jahren 30 Palästinenser freigelassen werden – drei, die eine lebenslange Haftstrafe verbüßen, und 27 mit anderen Haftstrafen. Gegen neun kranke oder verwundete Geiseln sollen 110 Häftlinge mit lebenslanger Haftstrafe ausgetauscht werden.
Insgesamt etwa 250 zu lebenslanger Haft verurteilte Palästinenser sollen laut Angaben der Hamas in der ersten Phase freikommen. Die Freilassung von etwa 230 weiteren Häftlingen mit lebenslanger Haftstrafe erhofft und erwartet die Hamas in der zweiten Phase. Darüber scheint aber noch keine Einigung zu bestehen – wie auch darüber, ob prominente Häftlinge wie Marwan Barghouti Teil des Austauschs sein werden. Die Freilassung des populären Fatah-Führers zu erreichen, würde für die Hamas einen großen Imagegewinn bedeuten. Die israelische Seite will Barghouti, der als wichtiges Faustpfand gilt, dagegen nicht freigeben. Auf solche Streitpunkte könnte eine Mitteilung von Netanjahus Büro zielen, wonach die Hamas versuche, vorzuschreiben, welche Häftlinge freigelassen werden. Im Fall von „Massenmördern, die Symbole des Terrors sind“, behalte Israel sich jedoch ein Vetorecht vor.
Neben substanziellen Fragen geht es dem Likud-Politiker wohl aber auch darum, das Narrativ über die Einigung in seinem Sinne zu formen. Monatelang hatte Netanjahu bestimmte Zugeständnisse als unzumutbar abgelehnt – etwa, dass Israels Armee die Philadelphi-Korridor genannte Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten räumt, die sie im Mai besetzte. Das ist nun ebenso Teil der Vereinbarung wie der Abzug aus dem Netzarim-Korridor, der den Gazastreifen in der Mitte durchtrennt.
Wird Israel die Kämpfe wiederaufnehmen?
Die gesamte Vereinbarung basiert auf derjenigen, die Joe Biden Ende Mai präsentiert hatte – auf der Grundlage eines israelischen Vorschlags, wie der amerikanische Präsident damals hervorhob. Netanjahu hatte diesen Plan umgehend kritisiert und zerpflückt, und eine Einigung kam nicht zustande, zum Verdruss Bidens und seiner Regierung. Auch jetzt stellte Netanjahu die Einigung schon nach kurzer Zeit infrage, wobei er dieses Mal die Schuld daran der Hamas zuwies. Viele Beobachter sind der Ansicht, dass es unerwartet starker Druck vonseiten Donald Trumps und seines Teams war, der Netanjahu überhaupt dazu bewogen hatte, der Vereinbarung zuzustimmen.
Denn diese bereitet ihm innenpolitische Schwierigkeiten. Jetzt wie damals geht es um eine grundsätzliche Frage: Bedeutet die Vereinbarung den Einstieg in den Ausstieg aus dem Krieg? Oder kann und will Israel die Kämpfe wiederaufnehmen, nachdem alle oder zumindest einige Geiseln freigelassen worden sind? Letzteres fordert vehement ein Teil der Regierungskoalition. Itamar Ben-Gvir, der Vorsitzende der Partei „Jüdische Stärke“, hatte schon am Dienstag verkündet, er lehne den Deal ab, weil er eine Kapitulation gegenüber der Hamas sei. Er rief Bezalel Smotrich von der Partei „Religiöser Zionismus“ auf, zusammen mit ihm aus der Koalition auszutreten, falls das Kabinett der Vereinbarung zustimmt. Sollten beide Parteien Netanjahus Koalition verlassen, hätte diese keine Mehrheit mehr in der Knesset. Auch Demonstranten aus religiös-zionistischen und Siedlerkreisen forderten am Donnerstag vor der Knesset eine Fortsetzung des Krieges und riefen Smotrich dazu auf, dem Deal nicht zuzustimmen.
Israelische Medien berichteten, die koalitionsinterne Krise sei der hauptsächliche Grund dafür gewesen, dass Netanjahu die Sitzung des Sicherheitskabinetts verschoben habe, nicht Unstimmigkeiten mit der Hamas. Erst gegen Mittag, nach einer Fraktionssitzung, rang Smotrichs Partei sich zu einer Entscheidung durch – allerdings einer, die klarmachte, dass sie das eine tun will und das andere nicht lassen: In einer Erklärung der rechtsreligiösen Partei hieß es, sie werde nur Teil der Koalition bleiben, wenn Netanjahu „sicherstellt, dass Israel den Krieg zur Zerstörung der Hamas wiederaufnimmt“, sobald die erste Phase des Abkommens abgeschlossen sei.