Über Parteien hinweg sind sich Politiker einig, dass die Strompreise in Deutschland zu hoch sind. Dabei ist deren Entwicklung in den vergangenen Jahren längst nicht so eindeutig, wie es im Wahlkampf bisweilen den Eindruck erweckt. Kleine und mittlere Industriebetriebe – also etwa Maschinenbauer oder Autohersteller – zahlen laut Branchenverband BDEW im Schnitt nur noch knapp 17 Cent je Kilowattstunde Strom.
„Wenn man die Inflation berücksichtigt, waren die Strompreise für die Industrie letztes Jahr so niedrig wie seit 14 Jahren nicht mehr“, schrieb Energieökonom Lion Hirth von der Berliner Hertie School dazu kürzlich im sozialen Netzwerk Linkedin. „Das passt irgendwie nicht zu dem oft wiederholten Narrativ, hohe Energiepreise seien Schuld am Niedergang der deutschen Industrie.“ Selbst nominal liegen die Preise für neue Abschlüsse so niedrig wie zuletzt im Jahr 2017.
Schlechte Karten für die energieintensive Industrie
Das liegt freilich auch daran, dass die EEG-Umlage, die den Ausbau der erneuerbaren Energien finanziert, seit dem 1. Juli 2022 nicht mehr unmittelbar von den Stromverbrauchern, sondern aus dem Bundeshaushalt getragen wird. Zudem hat die Ampelkoalition die Stromsteuer für das produzierende Gewerbe von 1,5 auf 0,05 Cent je Kilowattstunde gesenkt.
Trüber sieht die Entwicklung für die Industrie aus, die viel Strom verbraucht, also zum Beispiel die Hersteller von Aluminium, Kupfer, Stahl oder Papier. Ihre Stromkosten liegen mit knapp 14 Cent je Kilowattstunde nominal etwa 50 Prozent über dem Preisniveau der Jahre 2015 bis 2019. Das liegt vor allem an den Preisen im Großhandel, die sich von durchschnittlich knapp 3,5 Cent je Kilowattstunde im genannten Zeitraum auf 7,8 Cent im vergangenen Jahr mehr als verdoppelt haben.
Zurückzuführen ist das insbesondere auf die hohen Gaspreise, die schon ein Jahr vor dem russischen Angriff auf die Ukraine stark angezogen hatten. Gaskraftwerke bestimmen am Strommarkt oft den Preis, weil sie als Kraftwerke mit den höchsten Grenzkosten als Letztes aktiviert werden. Grenzkosten sind die Kosten, die anfallen, um in einem Kraftwerk eine weitere Kilowattstunde Strom zu produzieren. Bei Gaskraftwerken sind das im Wesentlichen die Kosten für das zusätzliche Gas, welches zur Stromerzeugung verbrannt wird.
Von den meisten Steuern, Abgaben und Umlagen ist die energieintensive Industrie traditionell befreit, weil sie sich im internationalen Wettbewerb behaupten muss. Viele Unternehmen können sich die Kosten des europäischen Emissionshandels erstatten lassen und zahlen reduzierte Netzentgelte. Außerdem musste ein Großteil der energieintensiven Industrie die EEG-Umlage nie zahlen und konnte sich die Stromsteuer erstatten lassen, hat also auch nicht von ihrem Wegfall beziehungsweise deren Senkung profitiert. Die Verdopplung der Preise im Großhandel schlägt auf sie voll durch – und lässt sie im internationalen Vergleich schlechter dastehen. Die Internationale Energieagentur schätzt, dass Kupfer- oder Aluminiumhütten in Deutschland etwa doppelt so viel für Strom zahlen wie ihre Konkurrenten in den USA.
Auch die Strompreise der privaten Haushalte sind in den vergangenen Jahren gestiegen. Der BDEW schätzt, dass sie im Schnitt knapp 41 Cent je Kilowattstunde bezahlen – gut 10 Cent mehr als in den Vorkrisenjahren 2015 bis 2019. Das liegt aber auch daran, dass Verbraucher ihren Stromtarif selten wechseln und so nicht von den zuletzt sinkenden Preisen im Großhandel profitieren: Das Verbraucherportal Verivox gibt die durchschnittlichen Preise in Neukundentarifen mit 29 Cent je Kilowattstunde an.
Die Großhandelspreise machen nur einen Teil der Stromkosten privater Haushalte aus. Mehr als die Hälfte ihrer Stromrechnung bezieht sich auf Netzentgelte, Steuern, Abgaben und Umlagen. Zwar haben sie von der Abschaffung der EEG-Umlage profitiert, allerdings machen sich die explodierenden Kosten des Netzausbaus zunehmend bemerkbar: Die Netzentgelte sind gegenüber den Vorkrisenjahren um etwa 50 Prozent gestiegen.
Und diese Entwicklung dürfte sich in den kommenden Jahren noch fortsetzen: Weil durch immer mehr Wärmepumpen, Elektroautos und zur Herstellung von Wasserstoff mehr Strom benötigt wird und gleichzeitig immer mehr Solaranlagen, Windräder und Batteriespeicher an die Netze angeschlossen werden müssen, müssen die Netze stark ausgebaut werden. Die Netzbetreiber schätzen die Kosten auf mehr als 500 Milliarden Euro. Über die Netzentgelte werden diese Kosten auf die Verbraucher umgelegt. Insofern verursacht die Energiewende hohe Kosten – auch wenn Wind und Sonne „keine Rechnung schicken“, wie Politiker früher gerne erklärten. Damit ist gemeint, dass erneuerbare Energien Grenzkosten von null haben. Auch müssen Ökostromerzeuger keine CO2-Zertifikate erwerben.
Im europäischen Vergleich zahlen deutsche Haushaltskunden unter anderem wegen der hohen Netzentgelte die höchsten Strompreise in ganz Europa. Bei Industriekunden liegt Deutschland auf Platz 5. Auffällig ist, dass die Preise zum Beispiel in Skandinavien sehr viel niedriger liegen. Norwegen, Schweden und Finnland produzieren einen Großteil ihres Stroms aus Wasser-, Wind- und Atomkraft. Auch in Frankreich, das in hohem Maß weiter auf Atomkraft setzt, sind die Preise oft niedriger.